Electra

 

                                     

                   

 

 

ein Bild

 

 

 Elektra

 

 

 


Vielleicht lag es ja an dem Namen. Den Namen verdankte sie ihrem Vater, Professor der Physik - eigenartig, eigensinnig und überzeugt, seine Tochter sei wie er, etwas ganz Besonderes. Leider hatte ihre Mutter sich darauf eingelassen, dass im Falle der Geburt eines Jungen sie, falls es ein Mädchen sei, der Vater den Namen bestimmen solle. Später bereute sie das, denn sie war fest überzeugt, nicht irgendwelche Gene, sondern dieser verdammte Name läge wie ein Fluch auf ihrer Tochter.

Die Absonderlichkeit, mit der Electra behaftet war, entwickelte sich allerdings erst langsam über die Jahre hinweg. In ihrer Kindheit war kaum etwas davon zu spüren, außer vielleicht, dass sie mit Vorliebe in Steckdosen fummelte, aber nie einen Schlag bekam, obwohl ihre Finger selten sauber und trocken waren. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, machte auch in der Schule wenig Ärger, wenn man mal von ihren sporadischen Anfällen von Faulheit absah. Ihr Vater war allerdings der Meinung, sie sei nicht faul, sondern hochbegabt und unterfordert. Und wirklich schien sie seine Begabung für die Mathematik und alle Naturwissenschaften geerbt zu haben. Wie der Vater entschied sie sich schon früh für ein Studium der Physik.

An Steckdosen spielte sie schon lange nicht mehr und hielt sich eigentlich selbst für ziemlich
normal, bis sie mit ungefähr 15 Jahren entdeckte, dass sie den Fernseher bedienen konnte, wenn sie nur darauf starrte und langsam den rechten Mittelfinger hob und senkte. Die Entdeckung begeisterte und erschreckte sie gleichzeitig, zumal sie plötzlich auch alle anderen Elektrogeräte auf diese Art bedienen konnte.

Mit 15 Jahren möchte man so sein wie die anderen Mädchen, vielleicht den Popstars ähneln, aber auf keinen Fall möchte man durch Phänomene auffallen, die einen in die Nähe von Hexen stellen. Über lange Zeit war die jugendliche Electra krampfhaft bemüht, die entdeckte Fähigkeit zu verbergen.

Als eines Tages der Vater dennoch dahinterkam und Electra ihm mehrmals die unglaubliche Fähigkeit vorführen musste, schwankte er zwischen Erschrecken und Euphorie. Er wälzte alle Werke medizinischer und mysthischer Theorien, über Forschungen menschlicher Magnetfelder, elektrische Schwingungen und dergleichen, durchforschte in langen Nächten das Internet, ja, er begann selbst an einer wissenschaftlichen Erhebung über die Möglichkeit von Wechselwirkungen zwischen Menschen und Elektrizität zu arbeiten. Er, dem Wunder fremd waren, wollte die Erklärung finden und herausarbeiten, warum seine Tochter in der Lage war, kraft ihrer Blicke, Bewegungen und bloßen Denkens Strom fließen zu lassen oder zu stoppen. Selbstversuche belehrten ihn allerdings, dass er über diese Fähigkeit nicht verfügte. Auch die Mutter war weit davon entfernt und eigentlich entsetzt, als er ihr Electras Geheimnis offenbarte. Erbgut schien auszuscheiden.

Electra hatte sich mittlerweile so daran gewöhnt, Blick und Finger einzusetzen, dass es ihr schon Mühe bereitete, dies im Beisein von Fremden nicht zu tun, um peinlichen Fragen aus dem Weg zu gehen. Wenn es ihr doch mal passierte, so tat sie unbeteiligt und erstaunt, warum plötzlich das Licht an- oder ausging, die Musik zu spielen begann und was solcher Dinge mehr waren.

Zwar hätte sie auch gern gewusst, worauf ihre besondere Gabe zurückzuführen sei, doch wenn nicht einmal ihr Vater als anerkannter Wissenschaftler dahinter kam, wie sollte dann sie das Rätsel lösen? Wie die Mutter neigte sie eher dazu, ihre Namenswahl zu verfluchen oder ein unbekanntes hexisches Erbe in der Familie zu vermuten, das man ihr verschwiegen hatte.

Die Furcht, bei Entdeckung ihrer Abart zur Verrückten oder Hexe abgestempelt zu werden, machte sie zur Einzelgängerin. Dann trat Paul in ihr Leben, und sie verliebte sich rettungslos. Paul ging es nicht anders. Die zwei wurden unzertrennlich. Den Eltern gefiel Paul. Sogar der Vater, dem das Beste nicht gut genug für seine Tochter sein konnte, hatte nichts an ihm auszusetzen. Die enge Zweisamkeit führte natürlich dazu, dass es Electra nicht gelang, vor Paul ihr Geheimnis zu wahren. Niedergeschlagen vertraute sie sich ihm an, schon fürchtend, er könne nun erschreckt das Weite suchen. Aber für Paul gab es an seiner  Ela, wie er sie nannte, keinen Fehl. Er hätte sie auch geliebt, wenn sie eine Werwölfin gewesen wäre. Er fand ihre Gabe sogar ungeheuer beeindruckend. War es nicht der Beweis, dass sie etwas ganz Besonderes war? Eine Frau, die sich nicht nur durch langes Blondhaar, samtige Braunaugen und eine traumhafte Figur, sondern auch noch durch übermenschliche Kräfte von der Masse abhob?

Er hatte keine Bedenken, die Frau seiner Träume zum Traualtar zu führen. Er dachte sich auch nichts dabei, als sie ihr Studium aufgab. Seit seinem Eintritt in die Anwaltskanzlei seines Onkels verdiente er genug. Er ahnte nicht, dass Electra schon zu dieser Zeit jede Öffentlichkeit zu scheuen begann, aus Furcht vor Entdeckung ihrer absonderlichen Gabe.

Mit der Zeit jedoch wurde ihm seine Frau zusehends unheimlicher. Die elektrischen Ströme schienen stetig stärker zu werden. Anfangs hatte er das Zucken und Kribbeln, das ihn befiel, wenn er ihren Körper berührte, als Zeichen besonderer körperlicher Anziehung zwischen ihnen empfunden. Als jedoch regelrechte leichte Stromschläge daraus wurden, erschreckte es ihn. Electra selbst hatte immer mehr Anstrengung, ihren Einfluss auf die Elektrizität in ihrer Umgebung im Griff zu behalten. Es kam jetzt nämlich vor, dass sie nur ärgerlich feststellte etwas im schummerigen Zimmer nicht zu finden, und schon leuchteten alle Lampen auf. Einem traulichen Abend bei Kerzenschein konnte das restlos die Atmosphäre nehmen. Nachdem heller Lichtschein Paul mehrmals nachts aus dem Tiefschlaf fahren ließ, drehte er abends die Sicherungen heraus und legte auf beide Nachttische eine Taschenlampe.

Je mehr Electra bemüht war, sich zu disziplinieren, desto schlimmer wurde es. Mehrmals hatte sie schon ein Chaos in der Wohnung angerichtet. Da brannte ein Topf auf dem ausgeschalteten Herd durch, der Anrufbeantworter wiederholte endlos seine Ansagen, dem lesenden Paul dröhnte urplötzlich laute Rockmusik in die empfindlichen Ohren, man saß mit Gästen bei Tisch und alle Lichter erloschen. Kurzum, was er einst für wundersame Begabung gehalten hatte, wurde mehr und mehr zum täglichen Albtraum – die Stromrechnung übrigens auch.

Seinem Rat folgend hatte Electra einen Psychiater aufgesucht, selbst hoffend, der könne sie von dem verhassten Phänomen befreien. Allerdings stellte der ihr so abwegige Fragen und war ihr so maßlos unsympathisch, dass sie voller Zorn in seiner Praxis ein unbeschreibliches elektrisches Durcheinander anrichtete. Angesichts piepender Geräte, einer heulenden Alarmanlage, des abgestürzten Computers und flackernder Lampen verabschiedete er die unheimliche Patientin so schnell es ging.

Wer könnte es Paul verdenken, dass er sich um die Zukunft größte Sorgen machte. Vom Kinderwunsch sprach er schon lange nicht mehr. Konnte man wissen, was dabei herauskäme? Und bei aller Liebe, die er nach wie vor für seine Ela empfand, war das Leben neben einer leibhaftigen Fernbedienung, deren elektrische Impulse immer unkontrollierter wurden, nicht gerade die Erfüllung. Verzweifelt flüchtete er sich in die Arbeit, verlegte seine Lese- und  Studienstunden restlos ins Büro, wo zumindest auf alle Lichtschalter, den Computer und den Anrufbeantworter Verlass war. Je öfter er allerdings des Abends von zu Hause fernblieb, desto heftiger bekam er es nun mit Elas Eifersucht zu tun.

Für sie war ein Leben ohne Paul unvorstellbar. Nicht nur weil sie ihn liebte, sondern auch, weil ihr sehr wohl bewusst war, dass kein anderer es je neben ihr aushalten würde. Sie haderte bis zur Verzweiflung mit ihrem Schicksal und hatte panische Angst, Paul könne sich in eine ganz normale Frau verlieben und sie hilflos ihren ungezügelten Kräften überlassen. Sie machte ihm Szenen, aber wenn sie sich aufregte, spielten ihre Impulse total verrückt und alles wurde noch schlimmer. Dann blinkten sämtliche Lampen oder verloschen, piepte die Mikrowelle, begann die leere Waschmaschine zu rappeln und der Föhn im Bad zu surren, bis Paul entnervt seinen Mantel nahm.

Es kam, wie es kommen musste. Paul lernte wirklich eine ganz normale Frau kennen. Nein, er hatte nicht vor, mit ihr etwas Ernsthaftes anzufangen. Er fand es nur entspannend, sich mit einer Frau unterhalten zu können, ohne irgendwelche elektrischen Überraschungen zu erleben oder bei ihrer Berührung einen Stromschlag zu bekommen. Dann aber wurde doch mehr daraus. Weil er keine Erfahrung mit Heimlichkeiten hatte und Elas eifersüchtige Instinkte aufs Äußerste geschärft waren, kam sie natürlich bald dahinter. Er fand sie eines Nachts, als er heimkam, in Tränen aufgelöst auf dem Bett liegend, infolge ihrer Erregung inmitten von piependen, rumpelnden, tönenden und surrenden Elektrogeräten in der Wohnung.

„Ich kann nicht mehr!“, brüllte Paul, „Ich kann nicht mehr! Stopf dich mit Valium voll oder mit sonst was, damit du endlich ruhig wirst. Das ist ein Irrenhaus, ein Horror! Ich werde hier wahnsinnig!“

Electra schrie ihm heftigste Vorwürfe entgegen, bis die überstrapazierten Glühbirnen durchbrannten. In der plötzlichen Dunkelheit sah Paul Funken aus ihrem Haar und von ihren Fingerspitzen sprühen. Das Entsetzen legte sich ihm wie eine eisige Hand in den Nacken, er spürte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog und der Unterkiefer zu beben begann. Keines weiteren Gedankens fähig, ergriff er die Flucht und

fuhr zu der Geliebten, die er eigentlich gar nicht liebte, bei der er aber Ruhe fand. Zum ersten Mal beichtete er ihr, wie es um seine Häuslichkeit stand. Die Freundin starrte den Erzählenden an als wäre er ein seltsames Tier. Sie wusste, dass sich Männer alles Mögliche einfallen lassen um zu demonstrieren, warum sie mit ihren Frauen nicht mehr auskämen. Dies hier grenzte aber schon an Schizophrenie oder Verfolgungswahn. Konnte denn ein normaler Mensch annehmen, dass man eine solche Geschichte glaubte? Und dieser Mann wollte im Gerichtssaal stehen? Es wäre noch hingegangen, wäre er betrunken gewesen, doch den Anschein hatte es nicht. Vielleicht war er rauschgiftsüchtig. Jedenfalls gab sie ihm am nächsten Tag den Laufpass.

Er sollte weiterhin Tisch und Bett mit einer unberechenbaren elektrischen Schaltuhr teilen. Um einem Nervenzusammenbruch vorzubeugen, beschloss er, seinen Urlaub zu nehmen und allein zu verreisen.

Elektra heulte sich bei ihren Eltern aus, machte ihnen aber auch bittere Vorwürfe, sie mit diesem Erbe in die Welt gesetzt zu haben. Trösten konnten die Eltern sie nicht, nur sie ihrer Liebe und Ahnungslosigkeit versichern. Besonders der Vater litt unter dem Kummer um die geliebte Tochter, zumal es nicht mal ansatzweise gelang, dem Geheimnis eine wissenschaftliche Erklärung zu geben. Er verbohrte sich so in seine Forschungen, dass er kaum noch Schlaf bekam. Eines Tages brach er zusammen. Schlaganfall. Mutter und Tochter eilten ins Krankenhaus. Electra zitterte vor Furcht, sie könne im Krankenhaus etwas Schreckliches anrichten. Sicherheitshalber nahm sie wirklich ein starkes Beruhigungsmittel. Doch die Angst verflog, als sie den Vater bleich und hilflos im Bett sah. Er konnte kaum sprechen und die linke Seite nicht bewegen. Sie setzte sich zu ihm, streichelte liebevoll sein Gesicht und den gefühllosen Arm.

In diesem Moment geschah es: Der Arm des Vaters zuckte und zuckte. Mit Erstaunen starrte er auf seine eben noch schlaffen Finger, die sich bewegten. Und als er zu seiner Tochter aufsah, konnte er zwar langsam, aber ganz deutlich die Worte formen: „Kind, was tust du?“ Electra lächelte erstaunt. „Ach Vater, nichts. Ich…ich weiß nicht. Warte…“ Noch war ihr der Zusammenhang nicht ganz klar, aber einem inneren Antrieb folgend strich sie nun ganz gezielt über seinen Kopf, seinen Nacken, legte die Hände an die bleiche Stirn des alternden Mannes. Es war nicht zu übersehen, wie gut es ihm tat.

Ärzte stehen Wunderheilungen eher misstrauisch gegenüber. Sie glaubten auch dem alten Physiker natürlich nicht die Geschichte, dass die elektrischen Impulse seiner Tochter ihn geheilt hätten. Es gäbe manchmal Spontanheilungen, meinten sie, und er solle froh sein, dass es noch mal so glimpflich abgegangen sei. Auch Electra selbst stand ihrem eigenen Tun noch skeptisch gegenüber. Allerdings wurde sie bald wieder überrascht, nämlich, als sie mit der Mutter deren kranke Kusine besuchte. Die Tante hatte seit Jahren arge rheumatische Schmerzen. Nicht das Leiden an sich, aber die furchtbaren Schmerzen, gegen die über die Jahre keine Therapie mehr auf längere Sicht half, machten sie fast unfähig, sich normal zu bewegen. Der Besuch war, was die junge Frau nicht wusste, eine Idee ihres Vaters. Er brannte darauf,  zu erfahren, ob seine Tochter wirklich über heilsame Kräfte verfügte. Als ihre Mutter sie leise darum bat, berührte Electra zögernd und zweifelnd die Tante. Sie strich über die geschwollenen Gelenke und hart verspannten Muskelpartien. Im ersten Moment zuckte die alte Dame erschreckt zurück, denn es war, als hätte ein heftiger elektrischer Schlag sie getroffen. Doch dann spürte sie, wie die Schmerzen langsam nachließen. Nach einigen Wochen regelmäßiger Besuche der Nichte war sie fast schmerzfrei, konnte sogar die Treppe hinunter und allein auf die Straße gehen.

Electra war zutiefst verwirrt, dass sie ihre verhassten Kräfte, die bisher doch nur Chaos und Unheil gestiftet hatten, einsetzen konnte, um Kranken zu helfen. Über lange Zeit war sie unsicher, wie sie mit der neuen Erkenntnis umgehen sollte. Allerdings hatte die Familie dafür gesorgt, dass es sich herumsprach. Es brauchte nicht lange, bis sich bei Electra Anrufe von Leuten häuften, die von Lähmungs- oder Schmerzleiden heimgesucht wurden. Rheuma, Gicht, Migräne, Rückenleiden, Ohrgeräusche – bald wusste Electra kaum noch, wo ihr der Kopf stand. Zu gleicher Zeit stellte sie fest, dass sie keinerlei Chaos mehr verursachte. Die elektrischen Geräte in der Wohnung standen brav an ihren Plätzen und funktionierten nur, wenn sie die Schalter bediente. Sie fühlte sich so frei und glücklich wie nie zuvor in ihrem jungen Leben. Sie war also kein Monster, kein Unikum, keine Horrorvision einer Hexe. Sie konnte heilen und helfen, ihre unerklärlichen elektrischen Entladungen nutzbringend einsetzen.

Paul trennte sich dennoch nach seiner Heimkehr von ihr. Eine Heilerin war ihm ebenso unheimlich wie ein wandelnder Hochspannungsmast. Manchmal überkamen ihn Erinnerungen, wenn er in der Zeitung über sie las oder sie ihm Fernsehen bei einem Interview sah. Dann aber fühlte er sich befreit. Sie hatte ihren Platz gefunden und würde ihren Weg gehen. Er dagegen hatte von Übernatürlichem und Unbegreiflichem fürs Erste mehr als genug.

 

Yvonne Habenicht, 2004

 

 

 
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