Als man uns die Jahreszeiten nahm

 




Als man
uns die Jahreszeiten
nahm

 

  

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Windikus, einer der Engel vom Projekt „Wetter auf Erden“, schlug erbost mit seiner Faust auf den himmlischen Tisch, an dem sich eine große Schar seiner Mitarbeiter versammelt hatte.

„Ich sag’s euch, am liebsten würde ich manchmal alles hinschmeißen. Seit Millionen von Jahren arbeiten wir nun angestrengt am Erdenwetter. Und ich denke, wir können mit Recht sagen, dass wir es einigermaßen hingekriegt haben. Aber gerade da, wo es am besten gelungen ist, tönt von den blöden Menschen ein Dauergejammer über das Wetter an meine geplagten Ohren.“

„Wie wahr, wie wahr“, stimmte ihm Temperius zu, „die unmutigsten Stimmen hört man aus Mitteleuropa. Dabei ist es dort mit dem Wetter beispielhaft. Der Frühling ist mild, hat nur leichte Stürme im Vergleich zu anderen Breitengraden, die Sommer sind erträglich und für beste Ernten geeignet, die Herbststürme vernichten nicht ganze Landschaften, und selbst die Sturmfluten sind ein Klacks im Vergleich zu anderen Gegenden, sogar der Winter ist dort maßvoll.“

„Dieses Menschengeschmeiß, sie vertragen es nicht, wenn es ihnen zu gut geht. Schon fangen sie mit dem Jammern und Heulen an.“ Es war Donnerkeil, zuständig für Gewitter und elektrische Schwingungen, der dies sagte.

Nachdem sie noch eine Weile ärgerlich dem Gemaule und Gezetere in Mitteleuropa zugesehen und ihren Unmut darüber bekundet hatten, beschlossen sie, dass den Undankbaren da unten sehr wohl einmal ein kräftiger Rüffel gut tun würde.

„Sie wollen Mittelmaß? Sie wollen keine Jahreszeiten, nicht schwitzen und nicht frieren? Sei es drum! Sollen sie am Mittelmaß ersticken.“ Einstimmig unterstützten die Beteiligten des Projekts diese Feststellung von Windikus.

So geschah es, dass gemäß dem einmütigen Beschluss dort oben im Himmel den undankbaren Mitteleuropäern die Jahreszeiten ersatzlos gestrichen wurden.

Von da an begann eine nie da gewesene Veränderung in den betroffenen Ländern. Die Winde zogen sich weit zurück, die Wolken verschwanden vom Himmel, die Temperaturen pendelten sich auf 20 bis 22 Grad ein bei täglichem Sonnenschein. Auf den Tag genau regnete es während der letzten Woche des Monats, und dies nur in den Nächten.

Am Anfang jubelten die Menschen und glaubten, der Himmel habe ihnen nun das Paradies auf Erden zuteilwerden lassen. Sie taten ihre Arbeit mit guter Laune, denn sie schwitzten nicht, sie froren nicht, sie brauchten keinen Schirm. Einmal gepflanzte Blumen hörten nicht mehr mit dem Blühen auf. Auf den Feldern keimte und reifte das Korn ohne Unterlass und die Obstbäume trugen beständig neue Früchte  Die Frisuren der Damen hielten für viele Tage ohne den bösen Wind, der sie immer zerzaust hatte. Die Heizkosten fielen auf Null, die Textilindustrie blieb auf ihren Mänteln, Pullovern, Schals, Mützen und was da noch an warmem Zeug war, sitzen. In den Apotheken gammelten die Hustentropfen traurig vor sich hin.

Ein Jahr verging so im Gleichmaß, dann machte sich neuerlich Unzufriedenheit breit. Nicht nur der Mann auf der Straße begann sich mit dem Wetter zu langweilen, auch die Wissenschaft stand vor einem Rätsel. Hatte man anfangs geglaubt, es handle sich um eine unvorhergesehen schnell eingetretene Auswirkung des Klimawandels, so ergaben nun die Forschungen, dass dem nicht so war. Nirgends sonst auf der Welt waren ähnlich krasse Veränderungen zu beobachten. Ob in Asien, Afrika, Australien oder Amerika, ob in Grönland oder am Südpol, überall waren zwar Zeichen des Klimawandels zu verfolgen, doch nirgends war ein solches Phänomen zu beobachten wie in Mitteleuropa.

Das Neujahrsfest nach diesem Jahr ohne Jahreszeiten war alles andere als übermütig in den betroffenen Ländern. Astrologen und Wahrsager wühlten vergeblich in ihren Requisiten auf der Suche nach Anzeichen einer Änderung. Die Menschen spähten missmutig gen Himmel auf der Suche nach Wolken und Vorboten winterlicher Stimmung. War es nicht schon schlimm genug gewesen, das Weihnachtsfest bei eintönigem Sonnenschein zu verbringen, der jede Kerze überflüssig machte? Doch es ging kein Luftzug, keines der nun immergrünen Blätter wiegte sich im Wind, und die Sonne strahlte hämisch auf das Einerlei schönen Wetters.

Die Menschen hatten kaum noch ein anderes Thema als das Wetter. Nicht einmal bei früheren Unwettern, Hagelschlägen, Überschwemmungen und Blitzeis war so viel vom Wetter die Rede gewesen.

„Wie schön waren unsere Winter, wenn unter den Füßen der Schnee knirschte und die Seen zugefroren waren. Nicht einmal Wintersport gibt es mehr.“

„Ich gäbe viel drum, wenn wir wieder einen schönen Herbst hätten. Das war meine liebste Jahreszeit. Die Blätter mit all ihren feurigen Farben, und der Wind fuhr einem durchs Haar.“

„Was wir jetzt haben, ist ja nicht mal Dauerfrühling. Früher, der Frühling, ja, der hatte doch noch was. Da gab es doch auch Wind und Regen. Das Erblühen der Blumen und Grünen der Bäume war doch wunderschön. Jetzt ist alles einfach immer gleich, langweilig. Nach dem Regen können wir die Uhr stellen.“

„Es müssen ja nicht gleich 30 Grad sein, aber so ein richtiger Sommer, der war doch auch nicht zu verachten. Bei unseren Temperaturen jetzt erwärmen sich die Seen nicht genug zum Baden.“

„Ich bin immer an die Nordsee gefahren. Ich mochte den Wind, sogar den Sturm und die Wellen. Jetzt liegt sie da wie ein Dorfteich. Da kann man doch nicht mehr Urlaub machen. Die Kinder sind nur am Quengeln.“

„Wenn es sich hier nicht ändert mit dem Wetter, machen wir im nächsten Winter Urlaub in Sibirien.“

„Jawohl, und fliegen nach Florida, da hat man doch noch Hoffnung auf einen Hurrikan.“

Eine ungeheure Reisewelle setzte ein. Kaum einer, der freiwillig in den heimatlichen Gefilden bleiben wollte. Ein jeder, und war er noch so knapp bemittelt, sparte sich eine Reise vom Munde ab, nur, um wieder einmal Wetter zu erleben.

Die Ärzte, die während der ersten Zeit des Wetterwandels kaum zu tun hatten, konnten sich des Ansturms nun kaum erwehren. Noch nie hatten sie so viele Depressive, Patienten mit dauernden Kopfschmerzen, sonnengeschädigten Augen, Menschen, die ständige Schlaflosigkeit plagte, behandeln müssen. Neue Medikamente für die vielen neuen Leiden infolge des gleichmäßigen Wetters mussten entwickelt werden.

Ein ganzer Markt für „Wetter-Erlebnisse“ hatte sich aufgetan. Riesige Hallen wurden errichtet, in denen man sich von künstlichem Sturm durchblasen und von Regengüssen durchweichen lassen konnte. Donner und Blitz wurden dort künstlich erzeugt. Es wurden überdachte „Schneeparks“ gebaut, in denen Eltern ihre Kinder mit den Schlitten aus alten Zeiten über künstlichen Schnee ziehen konnten. „Kälte-Bars“ und „Regen-Discos“ schossen wie die Pilze aus der Erde. Das wirkliche Wetter der wunderbaren Vergangenheit, als es noch vier Jahreszeiten gab, konnte all das jedoch nicht ersetzen.

Schließlich entschied die himmlische Konferenz: „Es ist an der Zeit, dass wir den Leuten dort ihre alte Ordnung wiederherstellen. Sie werden es nun zu schätzen wissen.“

Die Mitteleuropäer hielten es für ein Wunder, auf einmal gab es wieder Wetter und Jahreszeiten mit dem althergebrachten Auf- und Ab.

Sind sie nun zufrieden gewesen mit dem Wetter, die Menschen? Bewahre. Die Wissenschaftler plagten sich aufs Neue verzweifelt, das Ganze zu erklären. Die schöne Kunstwetterindustrie ging vor die Hunde und man jammerte über den wirtschaftlichen Einbruch. Die Heizkosten stiegen wieder und fraßen die Urlaubskassen leer. Bei Sturm und Regen kam man, wie früher schon, schlecht gelaunt zur Arbeit.

Und wieder setzte das alte Gejammer ein: „Dieser Frühling ist zu kalt. Noch nie war ein Sommer so heiß. Wann brachte ein Herbst schon mal so viel Hochwasser? Was ist das für ein kalter Winter!“

Man kann es ihnen nicht recht machen, den Menschen, dachten die Engel und hörten einfach nicht mehr auf das Klagen.

 

Yvonne Habenicht, 2007 

 

                              


  

 

 

 


 

 

                        

 
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