Bleiben Sie doch positiv

          





  
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Bleiben Sie doch positiv!

 Ich bin Frauke Seifert, 56 Jahre, und tappe gerade ins gesellschaftliche Nichts. Vor gut 30 Jahren hatte ich das Geschäft meiner Eltern übernommen. Das war so ein Laden für Wolle und alles mögliche Nähzubehör. Meine Mutter hatte mal einen deftigen Lottogewinn, da erfüllte sie sich den Traum mit so einem Laden. Es war ihr innigster Wunsch, dass ich den mal übernehme. Das tat ich dann auch. In der Firma, für die ich von der Buchhaltung bis zur Bewirtung der Kunden Mädchen für alles war, hatte ich mich sowieso nicht mehr wohl gefühlt. Eine Zeit lang lief alles auch ganz gut. Ich konnte das Angebot erweitern, nahm noch Unterwäsche und Bekleidungsstücke hinzu. Ich lernte einen netten Mann kennen, der mich gern und stolz als erfolgreiche Geschäftsfrau vorführte. Aber mit den Jahren kriselte es in der Wirtschaft und auch in meinem Laden. Am Ende war ich mit vier der enorm in die Höhe geschnellten Mieten und etlichen Lieferantenrechnungen im Rückstand. Ich verramschte also den Bestand und noch einiges persönliche Eigentum von Wert, damit ich wenigstens einen Teil der Schulden begleichen konnte, und schloss vor kurzem zum letzten Mal die Ladentür. Aus und vorbei. Nun bin ich wieder frei – und wie.

An irgendeine Arbeit dachte ich. Pustekuchen. In meinem Alter, und dann habe ich auch noch rheumatische Beschwerden, ein Andenken an den Durchzug im Laden. Also zum Arbeitsamt, wo ich natürlich nichts zu erwarten hatte nach der langen Selbstständigkeit. Von da schickte mich eine freundliche Dame mit Brille an der Anmeldung zu einer Stelle für das Arbeitslosengeld II, auch kurz als ALG II oder einfach Harz IV nach seinem großen Begründer benannt. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Ausweg. Der war immens wichtig, denn mit dem Laden hatte ich auch meine private Krankenversicherung gekündigt, und nach Abzug der Schuldentilgung blieb mir kaum noch was für die nächsten Wochen.

Ich begann die Treppe zu besagter Stelle zu erklimmen, bis es nicht mehr weiter ging, weil hier das Ende einer unübersehbaren Menschenschlange war. Man musterte mich missmutig, als ich mich an den Leuten vorbeidrängte. Wenigstens wollte ich doch sehen, wozu die hier alle standen. Über die Köpfe von Großen und Kleinen, Blonden, Schwarzen, Roten, Hüten und Glatzen hinweg sah ich ein Schild mit der Aufschrift „Anmeldung“. Eine offensichtlich hier Angestellte wetzte den Flur entlang, beladen mit einem Packen von Ordnern. Ich sprach sie an.

„Entschuldigen Sie“, sagte ich sanft, leise und freundlich, wie es sich gegenüber Amtspersonen hierzulande gehört, „ich bin hier neu. Ich war selbstständig, bin pleite und…“ Sie las meine Gedanken, warf mir einen ärgerlichen Blick zu, der soviel sagte wie Geh mir aus der Sonne, wies auf das Schild und auf das nur zu ahnende Ende der Schlange. „Stellen Sie sich an, dann bekommen Sie einen Antrag.“ Raste weiter, wie um die Sekunden aufzuholen, um die ich sie gebracht hatte. Ich schlängelte mich wieder die Stufen hinunter zum Ende der Schlange. Langsam kroch der Menschwurm vorwärts. Hinter mir reihten sich immer neue Leute ein.

Das kann ja heiter werden, dachte ich und versuchte vergeblich die Schmerzen in meinen Knien zu vergessen. Die Geräuschkulisse von Stimmengemurmel, Geschimpfte und Kindergeschrei ließ es nicht mal zu, sich mit irgendwelchen Gedanken erfolgreich abzulenken. Ich betrachtete die Leute vor mir. Aber das war langweilig. Die meisten standen einfach stur da und machten einen Schritt voran, wenn die Vorfrau oder der Vormann einen Schritt machte. Inzwischen hatte ich die Treppe verlassen und stand im Flur. Hier konnte ich mich nicht mal auf ein Geländer stützen wie auf der Treppe. Ich spürte, wie meine Knie langsam immer heißer wurden und anzuschwellen schienen. So ist das, wenn man was vom Staat will, muss man warten und Bescheidenheit üben. Wenn das Finanzamt von mir Steuernachzahlungen wollte, haben die nie angestanden und Bescheidenheit geübt. Na ja,  kommt eben drauf an, wer was will.

Nach fast einer Stunde hatte ich nur noch drei Leute vor mir. Ich begann in meiner Tasche nach dem Umschlag mit meinen Papieren zu wühlen. Dann der große Augenblick, ich war dran. Wieder trug ich meine Geschichte vor, händigte meinen Ausweis und die Unterlagen über die Geschäftsschließung aus und bekam einen mehrseitigen Antrag. Die junge Frau hinter der hellgrünen Barriere blickte ins Nichts und schnarrte: „Nehmen Sie bitte im Flur Platz, Sie werden noch aufgerufen.“

Pustekuchen. Von wegen Platz nehmen. Die wenigen Stühle waren besetzt. Einige Wartende saßen auf dem Fußboden. Soweit kommt’s noch, dachte ich. Schmerzen hin und her, das hatte ich nun doch nicht nötig. Außerdem, wie wäre ich denn mit meinen rheumatischen Knien wieder hochgekommen? Endlich wurde meine Geduld mit dem Aufruf meines Namens belohnt. Ich durfte in ein Zimmer und sogar Platz nehmen, auf einem richtigen Stuhl. Schon das erschien mir fast wie eine Sache, für die ich mich eigentlich bedanken sollte. Ließ es aber, weil die dunkelhaarige, bebrillte Riesin hinter dem Schreibtisch sofort zu reden anfing.

„So, Frau Seifert“, schloss sie ihr aufklärendes Gespräch, „wie es hier aussieht, haben Sie Anspruch auf das ALG II. Für eine eventuell Vermittlung – was können Sie denn?“

Die Frage verwirrte mich etwas. Was konnte ich eigentlich? Ich meinte, ich könne verkaufen, aber nicht lange stehen wegen des Rheumas, und ich würde mich mit der Buchführung auskennen, wäre allerdings nicht auf dem neuesten Stand, die vielleicht eine Firma erwartet. Sie schrieb irgendwas auf ein Papier. Dann bekam ich einen Stapel mit Informationsbroschüren, Hinweiszetteln, Amtssprechstunden und ähnlichen Sachen. Sehr professionell. Ich muss schon sagen, als ich nach über zwei Stunden das Gebäude verließ, hatte ich vorerst genug Stoff zum Lesen und Schreiben.

Zu Hause machte  ich mich sofort daran, die Broschüre und sämtliche Informationen zu studieren. Mir eröffneten sich magere Finanzaussichten, wenn man aber bedenkt, dass ich dafür nichts weiter leisten musste als den Antrag auszufüllen… Gewissenhaft füllte ich aus, kopierte Mietvertrag, Versicherungspolicen, Kontoauszüge und, und, und…na, so weiter. Als abends mein Lebensgefährte, Bernhard, von der Arbeit kam, stellte ich ihn vor die Aufgabe, ein Gleiches zu tun. Bernhard las sich ebenfalls alles durch, rechnete, grübelte und sah gar nicht fröhlich aus. „Ich glaube“, murmelte er schließlich, „ich verdiene zu viel. Glaub nicht, das du was bekommst. Aber von was willst du dann leben? Ich hab doch auch meine Verpflichtungen.“

Ich trabte wieder zum Amt, stand wieder an. Diesmal aber gleich oben im Flur, also dichter am Schalter. Nach nur einer halben Stunde konnte ich meine Nummer vorlegen und den Antrag. Nein, den musste ich noch behalten, bis ich aufgerufen wurde. Diesmal ergatterte ich sogar einen der Plastikstühle. Ich hatte mir auch ein Buch mitgebracht. Das war keine gute Idee, denn darauf landete erst ein Lolli, den ein zorniges Kind durch die Gegend feuerte, dann stand vor mir ein Mann, der sich dauernd an der Wade kratzte. Mit dem Kratzen ist es wie mit dem Gähnen, es steckt an. Ich dachte an Milben, Läuse, Flöhe und begann mich prompt zu kratzen und kam nicht mehr zum Lesen, bis ich endlich aufgerufen wurde.

In einem anderen Zimmer empfing mich eine andere Dame, rothaarig, klein, dick und ohne Brille. Sie forderte von mir noch weitere Kopien, deren Notwendigkeit aus dem Antrag nicht hervorging. Dann verharrte sie grübelnd auf einer Seite des Antrags. „Sie leben in einer eheähnlichen Gemeinschaft? Dann haben Sie auch Anspruch auf gleichen Unterhalt wie in einer Ehe.“

Ich hätte ihr nun erzählen können, dass Bernhard geiziger als der beste Schotte war, dass ich auch meinen Stolz habe und mich nicht von ihm ernähren lassen wollte und er auch gar nicht dazu willens war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte ich stattdessen, wir seien im Begriff, uns zu trennen. Mir wurde beschieden, wenn der Partner ausgezogen sei, solle ich mich wieder melden. Bis dahin laufe nur die Beantragung auf Übernahme der Krankenversicherung. Da hatte ich mir was Feines eingebrockt. Am Abend gab es entsprechend den dicksten Krach, den Bernhard und ich je hatten. Die Fetzen flogen, und am folgenden Tag packte Bernhard seine Koffer. Drei Tage später kam der Möbelwagen und die Wohnung wurde zusehends leerer. Das war’s dann wohl mit dem Partner für die zweite Lebenshälfte.

Zumindest  hatte ich doch nun Anspruch auf die Grundsicherung. Da stellte sich aber heraus, dass meine 3-Zimmerwohnung natürlich unverhältnismäßig groß und teuer war. Ich begab mich also auf die Suche nach einer Kleinbleibe, die die vorgegebene Miethöhe von 250 Euro nicht überschritt. Eine solche fand ich in einem Vorort, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. 30qm, mit einem winzigen Duschbad – zum Glück bin ich nicht dick - einer Miniküche und Ausblick auf einen Parkplatz. Ich verkaufte zu Schleuderpreisen meine Möbel, von denen kein Stück in das lauschige kleine Heim passte, und schaffte mir ein paar praktische Kleinmöbel an, reduzierte demzufolge auch meine Garderobe auf das Notwendigste – wohin damit? – und war stolz, dem Amt die schnelle Abwicklung meines staatsgerechten Umzuges berichten zu können. Natürlich habe ich auch mein Auto verkauft. Und man höre und staune, das Amt zahlte mir sogar die Kaution für die neue, kleine Wohnung. Da saß ich nun, fast eine Busstunde von der Innenstadt entfernt, in meinem Mauseloch und erwartete sehnsüchtig den Bescheid meiner monatlichen Zahlung.

Als meine Nahrungsvorräte bedenklich schwanden und ich fürchtete, das neue Wohnverhältnis gleich mit Mietrückständen zu gefährden, fuhr ich wieder zum Amt. Diesmal musste ich leider eine Stunde warten. Dann stellte sich heraus, dass meine Akte eigentlich in einem anderen Zimmer sei. Ich wartete wieder, bis ich bei der nunmehr vierten Dame landete. Die war eine strahlende Blonde, freundlich von Kopf bis Fuß. Sie konnte mir erfreulicherweise mitteilen, dass leider nur ein kleiner Fehler unterlaufen sei. Deshalb sei meine Akte noch nicht hinreichend bearbeitet, das werde jetzt aber sofort getan, denn ich erfülle nun ja alle Anforderungen. Das teilte sie mir so freudig und ermutigend mit, dass ich fast stolz darauf war wie auf eine große Leistung meinerseits.

Nach nochmals dreiwöchiger Funkstille machte ich mich wieder – nun schon der Verzweiflung nahe und sichtlich zwischen Mutlosigkeit und Wut schwankend – auf den Weg zum Amt.

Oh, richtig, die Frau Seifert. Ja, wie seltsam, da sei doch eigentlich alles klar. Oder doch nicht? Ich wurde eine Etage höher zur zuständigen Sacharbeiterin geschickt. Ich hockte auf einem Fensterbrett und fühlte den Angstschweiß im Rücken. Ich hatte ein Gefühl, als würde ich gleich einem Richter vorgeführt, der über Tod oder Leben zu entscheiden habe. Aber man darf sich wirklich nicht zum Spielball seiner Vorurteile machen. Als ich aufgerufen wurde, teilte mir eine rosige, grauhaarige Dame mit Brille mit, dass der Auszahlung nichts im Wege stehe. Ob ich einen Scheck oder eine Überweisung wolle? Ungläubig zitternd bat ich um einen Scheck, denn wer weiß, was bei einer Überweisung noch alles schief gehen konnte. Auf dessen Ausstellung musste ich dann noch mal vor einem anderen Zimmer warten. Dann verließ ich strahlend und zufrieden das Amt, den Scheck in der Tasche. 345 Euro für mich – natürlich muss ich sie mit der Telefongesellschaft, der Stromgesellschaft und dem Versandhaus, wo ich meine Kleinmöbel abzahle, teilen – obendrein Miete und Heizung.

Nicht viel, aber immerhin. Rockefeller hat auch mal klein angefangen. Allerdings war er da nicht 56 Jahre und Harz IV- Empfänger in Deutschland. Trotzdem, jeder Regen beginnt mit dem ersten Tropfen. Und wirklich, inzwischen habe ich einen 1-Euro-Job in einer Stadtbücherei, wo ich die Bücher abstaube. Das Geld bekomme ich ohne Abzüge noch zu meinen 345 Euro dazu. Wenn das nichts ist. Ich sitze zwar über 2 Stunden täglich im Bus und schleppe mich abends mit den Billigeinkäufen aus der Stadt, aber von nichts kommt nichts. Dafür habe ich keine Probleme mehr mit dem Finanzamt. Die Zukunft? Na, wer wird sich denn Gedanken über ungelegte Eier machen?

 

Yvonne Habenicht, 2005


                                                                                              


 
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