Gespenstlein Gruselmusel


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Gespenstlein Gruselmusel

Weit draußen auf dem Meer lag die Nebelinsel. Das heißt, man vermutete, dass unter der dichten Nebelglocke, die dort schwebte, eine Insel sei. Genau wusste es keiner. Die alten Schiffer hatten es von ihren Vätern und die von den Großvätern gehört, und auch, dass man der dichten Nebelwolke besser nicht zu nahe kam. Es hieß, dort hausten Gespenster. Nur neugierige Sportsegler kamen schon manchmal dichter heran. Doch hörten sie ein so grausliches Wispern, Heulen und Fauchen, dass es ihnen kalt im Nacken wurde und sie schnell das Weite suchten.

In dem unheimlichen Dunstschleier aber verbarg sich wirklich eine Insel. Eine kleine Welt für sich, eine Gespensterwelt. Seit undenklichen Zeiten lebten hier die Nebelgespenster ihren Geisteralltag, und natürlich zogen sie hier auch ihre Gespensterkinder auf. Nun ist die Zeitrechnung bei Gespenstern eine andere als bei uns Menschen. Schließlich können sie über tausend Jahre und mehr herumgeistern. So hatten dann auch die kleinen Gespenster eine lange Schulzeit von gut hundert Jahren vor sich, bevor sie einen Platz in der Geisterwelt der Erwachsenen einnehmen konnten.

In dieser Gespensterwelt hatte alles seine festen Regeln. Es gab die weißen Gespenster, die für die guten Träume der Kinder und der Menschen, die Gutes taten, zuständig waren, die schwarzen Gespenster, deren Aufgabe es war,  böse Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, und schließlich die grauen Geister, die für jede Menge Unsinn zuständig waren, wie Herumklopfen in Häusern, Töpfe und Pfannen purzeln lassen, Betten durcheinander wirbeln und dergleichen mehr.

Gruselmusels Eltern waren ein weißes und ein schwarzes Gespenst. Der kleine Gruselmusel ging  so an die dreißig Jahre zur Schule, als er begann, aufsässig zu werden und seinen Eltern und den Lehrergeistern Sorgen zu machen. Er war ungeduldig, fragte ständig, wann er hinausfliegen könne, statt aufmerksam die Gespenstertricks zu lernen. Immer wieder versuchte er, an die Grenze des Nebels, der die Insel umgab, zu kommen und hindurchzugelangen. Dann versetzte er seine Eltern, Onkel und Tanten in helle Aufregung, bis sie ihn wieder eingefangen hatten. Was konnte schließlich so einem kleinen Gespenst alles passieren, wenn es ohne gründliche Ausbildung in die Welt flog?

Aber Gruselmusel war und blieb ein unruhiger kleiner Geist. Er wollte nicht warten, bis die letzten Schuljahrzehnte anbrachen, wo die Gespenster einer Gruppe – weiß, schwarz oder grau – zugeteilt wurden und ihre Speziallehre erhielten. Nein, er fiel dem Lehrer ins Wort und forderte, dass alle Gespenster alles können sollten und je nach Laune spuken konnten. Überhaupt sah er nicht ein, hundert Jahre und mehr zu lernen. Das ging natürlich entschieden gegen die ewigen Geisterregeln. Aber Gruselmusel ließ sich nicht belehren, mochten die Lehrmeister, die Eltern und anderen Gespenster noch so auf ihn einreden.

Eines Tages, als die Gespenster ihre Jahrtausendwende mit Heulen, Geschrei und kreischendem Lachen feierten und keiner auf den Kleinen achtete, kroch er wieder vorsichtig an die Nebelwand. Eine Weile zögerte er und sah sich um. Niemand war ihm gefolgt, und er wagte den Sprung durch den Nebel. Da tat sich ihm eine eigenartige Welt auf. Unter sich sah er das dunkle Meer, in dem sich der Mond spiegelte, als führte eine Silberstraße geradewegs zu ihm herauf. Die Sterne funkelten und ein leiser Wind wehte, dem Gruselmusel sich anvertraute, um schnell an Land schweben zu können.

Erst fand er das Land ziemlich langweilig, denn da war nur Sand und Gebüsch. Doch schon bald schwebte er zwischen dichten, dunklen Bäumen einher, was ihm schon spannender erschien. Ein großer Uhu breitete in einer Tanne seine Flügel aus, gähnte und setzte zur nächtlichen Jagd an. Sie flogen geradewegs aufeinander zu, die Eule und das Gespenst. Der Uhu erblickte den Geist, gab einen erschreckten Schrei von sich und landete entsetzt flatternd in einem Ameisenhaufen. Gruselmusel war ebenfalls so erschreckt, dass er laut kreischte und sich zitternd an einen Ast hängte. Die aufgeschreckten Ameisen sorgten schnell dafür, dass der Uhu wieder aufflog. Er besann sich seiner Würde als Vogel der Nacht und wollte das Wesen untersuchen. Allerdings stellte er fest, dass er mitten durch das Ding hindurchfliegen konnte, weshalb er bebend in einem Baum Schutz suchte. Auch Gruselmusel zitterte ein wenig, war aber gleichzeitig stolz, die erste Mutprobe bestanden zu haben.

Schon bald kam er in eine kleine Stadt. Nun wollte er mal sehen, wie es war, den Menschen Streiche zu spielen. Um nachzudenken, ließ er sich auf dem Straßenpflaster zusammenschrumpfen. Die Kindergespenster sind gelb, und so sah der kleine Geist jetzt fast so aus wie ein aufgeschlagenes Ei. Das lockte eine Katze  an, doch als sie daran schlecken wollte, traf ihre Zunge nur auf die Pflastersteine. Gruselmusel war gar nicht so wohl angesichts des unbekannten Tiers, und sicherheitshalber  stieß er ein unheimliches Geheul aus. Der Katze sträubte sich das Fell, mit großen Sprüngen suchte sie das Weite.

Kaum hatte er mit dem Spuken begonnen, fand er schon einen Riesenspaß daran. Er klopfte an Fenster, heulte, kreischte und lachte schrill, wenn er sah, wie drinnen die Menschen vor Schreck blass wurden und furchtsam auf die Fenster starrten. Er schlüpfte durch ein Schlüsselloch und machte sich in einer Küche zu schaffen, wo er Pfannen und Kochgeräte klirrend zu Boden fallen ließ. Mit grässlichem Gelächter knipste er das Licht an und aus und warf am Ende noch einen Suppentopf um. Dann kroch er in eine Ecke, machte sich platt und winzig klein, lachend, wie die Menschen entsetzt das Chaos betrachteten.

Bald wurde es ihm aber langweilig, und er beschloss mehr von der Welt  erkunden. Nachdem er eine Weile über Felder und Wälder geschwebt war, sah er ein altes Gutshaus. Im oberen Stockwerk schlüpfte er durch ein Fenster und landete in einer Rumpelkammer mit allerlei Kram und alten Möbeln, wo er zu geistern und zu klappern begann. Dann machte er sich auf, alles zu besehen. Eine Treppe führte hinunter in den großen Wohnraum. Im Kamin glomm noch der Rest eines Feuers und verbreitete ein schwaches Licht. Der kleine Geist hatte sich noch nicht mal richtig umgesehen, als ihm ein fürchterlicher Gestank fast den Atem nahm. Zugleich fühlte er sich am oberen Zipfel seines Nebelschleiers gepackt und hörte eine grollende Stimme: „Was treibst denn du hier? Wer bist du eigentlich, du kleines Ding?“

Das Gespensterkind sah sich einem großen alten Geist gegenüber, dessen Schleier aussah, als bestünde er aus tausenden von Spinnweben. In seinem bläulich schimmernden Gesicht glühten blassrote, zornige Augen.

„I…i…ich bin ein… ich bin Gruselmusel.“

„Und was tust du hier in meinem Haus? Wo kommst du überhaupt her? Du bist doch noch nicht mal ein fertiger Geist.“

„Ich komme von der Nebelinsel. Ich…na, ich bin ausgerissen.“

„Hö, hö! Nebelinsel! Das ist ein komisches Gespenstervolk. Ausgerissen bist du? Keine Lust mehr auf Schule, was?“

Gruselmusel nickte. Wohl war ihm nicht neben diesem Geist.

„Ich bin der Miefgeist und spuke hier schon seit fast hundert Jahren. Vorher habe ich zweitausend Jahre auf einer alten Burg gespukt. Na, bleib halt hier. Du kannst mir helfen, ich hab nämlich ein Problem.“

Gleich fühlte sich Gruselmusel ungeheuer wichtig, dass er, der kleine Geist, diesem Alten bei einem Problem helfen sollte. Gespannt wartete er auf eine Erklärung.

„Ja, mein Kleiner, mein Leid ist, dass die Leute hier nicht an Gespenster glauben. Ich kann tun, was ich will. Stinke ich, so denken sie, es kommt unten von der chemischen Fabrik, klappere ich und werfe Gegenstände hinunter, so glauben sie, es kommt von den Lastwagen hinten auf der großen Straße. Heule ich, so meinen sie, geträumt zu haben. Immer suchen sie solche albernen Erklärungen. Und du weißt doch bestimmt schon, dass uns nur die Menschen sehen können, die an uns glauben. Doch wie sinnlos ist ein Geisterleben, wenn niemand glaubt, dass man existiert?“

Das fand auch Gruselmusel sehr schlimm. Das war ja, als wäre der Geist gar nicht vorhanden und all seine Mühe vergeblich.

„Dabei können sie froh sein, denn ich wache über das Haus. Schon zweimal habe ich Einbrecher im Hof verscheucht. Der dumme Hund draußen schläft sowieso jede Nacht ganz tief.“

„Schlimm“, stimmte Gruselmusel ihm zu, „und was können wir nun machen, Miefgeist?“

„Nun, du wirst hier bleiben und die Leute überzeugen.“

„Aber so schnell fällt mir nichts ein“, widersprach der Kleine, „ich muss doch morgen in der Frühe auf der Insel sein.“

„Nichts da! Du bleibst hier, bis die an mich glauben. Bis dahin belege ich dich mit dem Bleibebann.“

Gruselmusel schrumpfte entsetzt zusammen. Er erinnerte sich an die Geschichte von einem Geist, den ein Schlossgespenst mit dem Bleibebann belegt hatte. Ganze 500 Jahre hatte er in dem alten Gemäuer ausharren müssen, bis das Schloss schließlich abgerissen wurde und der einsame Schlossgeist den Bleibebann aufhob. Was würden die Eltern, die Tanten, Onkel und Lehrer sagen, wenn er nicht wieder auftauchte? Während der folgenden Stunden zerbrach sich der Kleine den Kopf, wie er dem Miefgeist helfen und so sich selbst befreien konnte.

„Hör zu“, raunte er dem Miefgeist zu, „ich will was versuchen, aber du darfst nicht dazukommen. Nicht bevor ich dich rufe. Dein schrecklicher Gestank würde alles zunichte machen. Es wäre ganz schön, wenn du versuchst, mal weniger zu stinken.“

So schlich er des Nachts ins Schlafzimmer der Hausbesitzer. Die schliefen tief und schnarchten entsetzlich. Gruselmusel fragte sich, wieso Menschen auch beim Schlafen so einen Krach machen mussten. Er hockte sich zwischen die beiden in die Mitte des Bettes und begann sie zu zupfen, an den Ohren zu kitzeln, ihnen leichte Stöße zu versetzen. Endlich drehte sich die Frau brummelnd um. Sie stieß ihren Mann an, weil sie dachte, er habe sie gestört. Dann hörte sie neben sich ein leises Kichern und eine Kinderstimme: „Hallo, bist du wach?“

„Hä…?“

Gruselmusel rüttelte sie noch einmal kräftiger, bis sie nun endgültig wusste, dass sie nicht mehr schlief.

„Hallo! Ich bin hier, neben dir im Bett. Mach mal die Augen auf.“

Die Frau rieb sich verstört die Augen. „Wa…was, w…er?“

Gruselmusel erfasste ihre Hand. „Guck doch mal, hier. Ich sitze hier auf dem Bett.“

Ganz deutlich spürte die Frau die zarte Kinderhand, die die ihre umfasste. Und weil sie keine Zeit hatte, sich eine Erklärung dafür zu erdenken, und überzeugt war, dort sei jemand, konnte sie das kleine gelbe Wesen auf dem Bett sehen. Richtig niedlich sah es aus, nur ein wenig blass um die Nase. Aber wie kam dieses Kind hier ins Zimmer?

„Siehst du, du kannst mich sehen“, lachte Gruselmusel leise, „weißt du, ich bin ein kleines Gespenst. Ganz ehrlich. Bin nur auf der Durchreise. Ich habe euren Hausgeist besucht. Der ist furchtbar traurig, weil ihr nicht an ihn glauben wollt, und darum könnt ihr ihn auch nicht sehen. Dabei passt er jede Nacht auf, dass euch nichts passiert.“

Der Mann wurde nun unruhig und fragte mit verschlafener Stimme: „Tina, was redest du denn da?“

„Psst“, machte die Frau, „nicht so laut. Sieh mal, hier ist ein kleines Gespensterkind. Es ist wirklich da, es hält meine Hand und spricht mit mir.“

„Du spinnst ja. Oder träumst du noch?“

Gruselmusel wollte jetzt nicht nachlassen. Schließlich hatte er schon bei der Frau Erfolg gehabt. Er legte dem Mann die Hand auf die Schulter. Der fuhr erschreckt auf. Gruselmusel konnte ein Kichern nicht mehr hinunterschlucken. Und dieses Kichern klang so wirklich, dass der Mann sich unwillkürlich ganz herumdrehte und die Augen weit aufriss. Doch für langes Nachdenken war er zu verschlafen, und es fiel ihm nichts ein, womit er die Angelegenheit hätte abtun können. Mit Schreck und Staunen sah nun auch er den kleinen Geist auf dem Bett.

„Was ist das für ein dummer Streich?“ brummte er, denn im ersten Moment meinte er, ein echtes Kind zu sehen. Doch Gruselmusel ließ einen weichen Nebel um sich schweben, fuhr zur Zimmerdecke hinauf und dann wieder auf das Bett nieder.

Kein Zweifel, dachte der Mann, das ist ein Gespenst, oder ich bin verrückt geworden. Und nochmals erzählte der Kleine nun ihm die Geschichte vom alten, treuen Hausgeist. Die beiden Menschen jedoch waren so perplex über ein leibhaftiges Gespenst, dass sie zu keiner Antwort, ja, nicht mal zu einem vernünftigen Gedanken fähig waren. Gruselmusel grinste und sagte bei sich: ha, ich hab euch so weit. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Dies sollte das Zeichen für den Miefgeist sein. Dem schlug heftig das Herz. Endlich würde man ihn sehen, würde ihm die nötige Hochachtung zuteil werden. Würdevoll schwebte er ins Schlafzimmer.

Doch, oh Schreck, die zwei Menschen wurden kreidebleich. Die Frau schrie entsetzt auf und schien einer Ohnmacht nahe. Dem Mann traten fast die Augen aus dem Kopf, und seine Hand fuhr unwillkürlich zur Nase, um sie zuzuhalten. Obwohl Miefgeist sich bemüht hatte, seinen Mief zu mindern, stank er noch immer entsetzlich.

„D…d…a…s wohnt hier? Ihhh! Der ist ja widerlich!“, schrie die Frau.

„Pfui Teufel, daher kam der Gestank immer. Brrr! Du ekliges Ding!“, tobte der Mann. Allerdings, da er sich die Nase zuhielt, klang es eher komisch.

Gruselmusel schaute erschrocken von einem zum anderen.

„Aber, aber, er ist doch ein Geist wie ich auch. Ist doch egal ob er rote oder grüne Augen hat oder ein Spinnwebkleid. Er passt doch auf euch auf.“

Miefgeist besann sich seiner alten Gespensterwürde und reckte sich empor, so dass sein Kopf fast an die Decke stieß. Er gab einen leisen Heulton von sich, bei dem ein Elefant Gänsehaut bekommen hätte.

„Ihr Dummköpfe“, rasselte er, „was meint ihr, wie ein Einbrecher die Beine in die Hand nimmt, wenn der mich sieht. Euer Hofhund? Der ist doch gerade zum Fressen und Schlafen gut. Ich aber kann jeden vertreiben, ob Mensch oder gefährliches Tier.“

„Und uns gleich mit“, flüsterte die Frau.

„Das ist mein Haus! Raus mit dir!“, rief der Mann, der seine Fassung ein wenig zurückgewonnen hatte.

Doch Miefgeist schüttelte den knochigen Kopf: „Irrtum, dummer Mensch, ich wohne hier seit gut einhundert Jahren. Ich werde hier weiter herumgeistern, ob es euch passt oder nicht. Ich rate euch aber, stellt euch lieber gut mit mir, denn ein zorniges Gespenst kann sehr, sehr unangenehm werden.“

Das bezweifelte keiner.

„Soll er doch“, jammerte die Frau, „nur jetzt geh weg, du Gespenst, ich bekomme kaum noch Luft. Mach was du willst, aber lass dich nicht zu oft sehen und riechen.“

Mehr wollte der Miefgeist gar nicht. Bevor er sich aber umsehen und Gruselmusel danken konnte, war der mit einem riesigen Satz zum Fenster hinausgeflogen. Das Morgengrauen war bereits dem hellen Tag gewichen, und Gruselmusel wollte jetzt nichts eiliger als ganz schnell zur Insel zurück. Doch wie er so über die Felder schwebte, sah alles ganz anders aus als in der Nacht zuvor. Er hatte keine Vorstellung, in welche Richtung er sich wenden sollte. Er schwebte einfach drauflos. Schon bald war ihm klar, dass dies nicht der richtige Weg sein konnte, denn plötzlich erhoben sich vor ihm hohe Berge. Sie waren unten mit dichtem Tannenwald bewachsen, und hoch oben ragten graue Steingipfel heraus, die weiße Schneehauben trugen. Nur aus Erzählungen kannte er solche Berge. Eines war gewiss, hier war er am Abend nicht vorbeigekommen. Verzweifelt sah er um sich. Doch nichts an der ganzen Landschaft wirkte irgendwie vertraut.

Fast wäre er ganz ungespenstisch in Tränen ausgebrochen, wenn da nicht wie aus dem Nichts ein riesenhafter Geist aufgetaucht wäre. Kaum konnte der Kleine mit weit zurückgelegtem Kopf das Gesicht des Riesen erkennen. Von dunkelgrüner Farbe war sein waberndes Kleid, seine Hände und Füße waren fast so groß wie Gruselmusel selbst, und das Gesicht dort oben schien schwarzgrau mit funkelnden gelblichen Augen. Wie Donnergrollen kam seine Stimme von da oben, als er Gruselmusel fragte, was er hier wolle.

Der wisperte seine Geschichte, wie er ausgerissen war, dann dem Miefgeist geholfen und nun den Weg zur Insel verfehlt hatte.

„Die Eltern, die Lehrer, sie alle werden mich fürchterlich strafen“, endete er seinen Bericht.

Der Riese lachte, und es tönte, als polterten Hunderte von Steinen den Berg herab.

„Ich bin der Berggeist. Komm in meine Hand, ich will dich zum Gipfel tragen. Von dort kannst du weit in die Welt sehen. Bestimmt siehst du dann, woher du gekommen bist. Ich kenne eine solche Insel nicht. Doch bist du hergekommen, wirst du auch zurückgehen können.“

So hockte Gruselmusel klein und gelb in der mächtigen Hand des Berggeistes, während dieser mit Riesenschritten den hohen Felsen hinaufstieg. Schon verflog Gruselmusels furchtsame Stimmung angesichts all dessen, was er sah, je höher sie kamen. Drunten sah alles aus wie ein Spielzeugland. Um ihre Köpfe wirbelten wilde Wolken, Gämsen sprangen über die Felsen, und wild dreinschauende Adler hockten auf ihren Horsten. In der sicheren Riesenhand überkam Gruselmusel wieder Freude an dem einmaligen Abenteuer seiner Reise.

Wie weit aber konnte man erst vom Gipfel schauen! Ihm war, als läge ihm die ganze Welt zu Füßen. Und in der Ferne sah er das Meer. So weit fort, dass ihn fast der Mut verließ, wie er jemals diesen weiten Weg schaffen sollte. Und wieder wurde er ängstlich und kleinlaut.

„Ich werde mich verlaufen, verfliegen, verschweben“, jammerte er. „es ist so weit weg. Wie soll ich mir die Richtung merken? Kannst du nicht mit mir gehen, Berggeist?“

„Niemals darf ich das Reich der Berge verlassen. Ich habe dir gezeigt, wo das Meer ist. Nun musst du selbst den Weg finden.“ Mit Riesenschritten machte er sich an den Abstieg.

Noch einmal wies er Gruselmusel die Richtung, in der sie das Meer gesehen hatten, dann war er wie vom Erboden verschwunden.

Zu Gruselmusels Freude kam ein kleiner Wind daher, der wie es schien, genau in die gezeigte Richtung blies. Der kleine Geist vertraute sich ihm an und ließ sich tragen. Doch schon bald wurde der Wind größer und wilder. Er blies nicht mehr geradeaus in eine Richtung, sondern tanzte mal im Kreise, mal vorwärts, mal rückwärts, so dass Gruselmusel ganz und gar die Orientierung verlor und sich schließlich mutlos und verwirrt in einen Wald sinken ließ. Nun wusste er wieder nicht, wo er war, noch wohin er gehen musste.

Er versuchte die Vögel zu fragen, doch die flogen kreischend davon, selbst die Ameisen sausten erschreckt in ihre Burg, und die Eichhörnchen erklommen ganz schnell die höchsten Äste. Warum nur fürchteten sie sich vor ihm, fragte sich Gruselmusel traurig. Seine Lage schien hoffnungslos, wenn niemand ihm helfen wollte.

Auf einmal begannen die Bäume zu rauschen und zu flüstern. Sie hoben und senkten ihre Äste wie zum Gruß. Doch kein Wind wehte. Die Blätter und Hölzer am Boden begannen sich zu rühren und die Blumen, die gerade noch im Schatten geschlummert hatten, öffneten erwartungsvoll ihre Kelche. Gruselmusel spähte um sich. Sein Gespensterinstinkt  sagte ihm, dass hier ein Geist nahte. Wirklich, langsam wuchs eine Gestalt aus dem Dickicht. Ein Wesen, an dem alles vom Walde kam, das raschelnde Blätterkleid, die astähnlichen Arme mit Händen und Fingern aus dünnen Zweigen, das erdbraune Gesicht mit grünen Augen und dem Mooshut, den es auf dem Kopf trug.

 „Oh“, sagte der Geist mit knarrender Stimme, „lange hat es keine Gespensterkinder in diesem Wald gegeben. Wohl über tausend Jahre ist es her, dass ich, der  uralte Waldgeist, eines gesehen habe. Von welchem Geist bist du das Kind?“

Wieder erzählte Gruselmusel seine Geschichte, die nun noch länger war, da er auch von dem Berggeist zu berichten hatte. Erstaunt wiegte der Waldgeist seinen Kopf, denn weder von Bergen noch von Berggeistern oder von Nebelgespenstern und ihrer Insel hatte er gehört.

„Warum willst du dorthin zurück, wenn du doch fortgegangen bist?“, fragte er. „Bleib hier, du kannst mir so vieles erzählen, wovon ich im ganzen Leben noch nicht gehört habe.“

„Aber Waldgeist, ich habe dir schon alles erzählt. Ich will wieder nach Hause.“

„Nichts da“, fegte der Waldgeist mit einer Handbewegung Gruselmusels Einwand hinweg. „Ich glaube das nicht. Du erzählst, du bist dort zur Schule gegangen, warst mit vielen Gespenstern zusammen. Dann kennst du auch all ihre Geschichten. Ich will sie alle hören. Hörst du? Alle! Dann magst du gehen, wohin du willst. Wie du zu so einem Meer, oder wie das heißt, kommst, weiß ich allerdings nicht.“

Was sollte der kleine Gruselmusel tun? Den rechten Weg wusste er nicht. Dem alten Geist zu entfliehen schien unmöglich. Gewiss kannte der jedes Sandkörnchen in dem Wald. Wo sollte man sich da verbergen?

Nichts anderes blieb ihm übrig, als zu beginnen, dem Alten alle Geschichten zu erzählen, die er je gehört hatte. Fehlte ihm eine Erinnerung, so erdichtete er eben etwas. Der alte Waldgeist lauschte hingegeben. Hatte ihm doch noch nie jemand Geschichten erzählt. Die Bäume tuschelten manchmal, auch die eitlen Blumen, doch sie redeten über Wind, Sonne, Mond, Sterne und Regen. Richtige Geschichten erzählten sie nicht, und schon gar nicht solche über Gespenster und ihre Erlebnisse.

Viele Tage wanderten der Waldgeist und das Gespensterkind durch den dichten Wald, und während all der Zeit erzählte Gruselmusel ohne Unterlass. Die Bäume hörten auf zu rauschen und zu flüstern und hörten zu, die Blumen kicherten albern über die Geschichten, und des Nachts vergaßen die Eulen die Jagd und lauschten Gruselmusel. Der vergaß fast seinen Wunsch, heimzukehren. Er fühlte sich ungeheuer wichtig. Wie dumm war gegen ihn ein so alter Geist, der doch nicht eine Geschichte kannte, während er, der kleine Gruselmusel, wohl hunderte von Erzählungen wusste.

Es kam aber der Tag, da war auch die allerletzte Geschichte erzählt und Gruselmusels Kopf so leer wie ein trockener Teich. Die Bäume begannen wieder ihr Geflüster, die Blumen dehnten sich der Sonne entgegen und die Eulen jagten nach Mäusen. Der alte Waldgeist reckte sich, dass seine hölzernen Knochen knackten, und gähnte zufrieden.

„Ach, nun bin ich voller Geschichten“, seufzte er zufrieden, „ich werde sie mir alle merken und mir immer wieder erzählen. Nun kannst du gehen.“

Ohne seine Aufgabe als Geschichtenerzähler fühlte Gruselmusel sich nun plötzlich wieder klein und hilflos.

„Ach, alter Geist, wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen muss. Ich werde mich wieder verlaufen und nie  bei meiner Insel ankommen. Kann ich nicht bei dir bleiben? Daheim wartet gewiss nur Strafe auf mich, falls ich mal ankomme.“

„Nein, nein, mein Kleiner. Du bist nicht für den Wald geschaffen, bist nicht aus dem Stoff, aus dem Waldgeister sind. Lass uns zum Waldrand gehen und die Zugvögel befragen. Sie kennen die ganze Welt.“

„Ich habe schon die Vögel gefragt. Sie hatten nur Angst vor mir.“

„Gewiss, weil du ihnen fremd bist. Mich aber kennen sie und werden Auskunft geben.“

Zwar bezweifelte Gruselmusel, dass diese flatterhaften Vögel die ganze Welt kennen sollten, doch folgte er willig dem Waldgeist. Was sonst hätte er auch tun sollen?

Hinter dem Wald taten sich goldene Kornfelder auf, und die helle Sonne blendete die beiden Gespenster.

Sie hockten sich zwischen die Tannen, bis endlich ein Schwarm Vögel über die Felder dahinstrich. Der Waldgeist rief sie an, und wirklich kamen drei der Vögel herunter zu ihnen in den Wald. Nachdem der alte Waldgeist ihnen geschildert hatte, was Gruselmusel suchte, berieten sie sich ein Weilchen untereinander. Dann sagte der größte von ihnen: „Eigentlich haben wir mit fremden Geistern nichts im Sinn. Nie weiß man, was sie im Schilde führen. Doch weil es ein Freund von dir ist, Waldgeist, der du schon unseren Urururgroßeltern bekannt warst, so soll er hinter uns her fliegen. Wir fliegen zur Küste, hinter der das große Meer ist. Dort werden wir mit den Möwen sprechen, die über dem Meer zu Hause sind. Sie können ihm die Richtung weisen.“ Dann wandte sich der Vogel an den staunenden Gruselmusel: „Du kleines Gespenst, wenn du dir aber einfallen lässt, uns böse Streiche zu spielen, wird dir das übel bekommen.“

Nu allzu gern versprach Gruselmusel, das vorbildlichste Gespenst zu sein, das sie je erlebt hatten.

Während des ganzen Fluges hielt er sich dicht hinter dem größten Vogel, sagte kein Wort und war so brav, wie kaum einer es von einem kleinen Gespenst erwarten könnte.

Nun fiel ihm das auch nicht besonders schwer, denn es gab da unten natürlich unheimlich viel zu sehen und zu bestaunen. Flüsse, Wiesen, Wälder, Felder, Städte mit ganz hohen Häusern und Dörfer, allerlei Tiere, Autos und Eisenbahnen. Auch hier oben hieß es aufgepasst, denn sie mussten den Flugzeugen ausweichen, denen schon so mancher Vogelschwarm zum Opfer gefallen war. Gruselmusel wusste nicht, wie lange sie so geflogen waren, als sich riesige blauschwarze Wolken aufzutürmen begannen. Kaum hatte er Zeit, das Phänomen zu bestaunen, da fuhr ein Sturm durch den Vogelzug und grelle Blitze zuckten aus den Wolken, gefolgt von dröhnendem Donner. Die Vögel stürzten in schnellem Flug auf eine Baumgruppe zu, um in den dichten Ästen Schutz zu suchen. Gruselmusel hatte größte Mühe, ihnen zu folgen, denn allzu verlockend war es, dem Gewitter zuzusehen. Ganz schweigsam hockten die Vögel in den Bäumen, damit ja Blitz und Donner sie nicht hören und erschlagen konnten.

Gruselmusel dagegen hüpfte übermütig auf dem Feld herum, versuchte die dicken Regentropfen zu haschen, die aus den Wolken fielen, machte den wütenden Blitzen eine lange Nase und schrie und heulte gegen den Donner an, wie es nur Gespenster können. Was konnte ihm ein Unwetter schon anhaben? Weder Blitz und Donner können einem Gespenst etwas anhaben, noch kann der Regen einen Geist durchweichen. Für das kleine Gespenst war das Unwetter nichts als ein ungeheuer lustiges Spiel. Er konnte nicht begreifen, warum die Vögel triefend nass und ängstlich im Geäst hockten, statt mit dem Wind um die Wette zu fliegen. Erst auf dem Weiterflug erklärte ihm der große Vogel an der Spitze des Zuges, dass alle Wesen aus Fleisch und Blut die Naturgewalten fürchten und nur Geister unverletzlich sind. Da wurde Gruselmusel zum ersten Mal klar, dass es etwas ganz Besonderes war, ein Gespenst zu sein. Bei sich schwor er, wenn er je die Insel wieder erreichen sollte, so lange wie möglich zur Schule zu gehen, alles zu lernen was ein Gespenst wissen musste, und nie mehr dagegen zu rebellieren. Hatte er doch einen Jahrhunderte langen, einmaligen Abenteuerweg vor sich.

Wie versprochen, riefen die Vögel an der Küste die Möwen zusammen und befragten sie nach der Nebelinsel. Wirklich war diese vielen Möwen bekannt, wenngleich sie wie die Menschen einen großen Bogen darum machten. Doch bis zu einem Punkt, von dem aus man die Nebelinsel sehen konnte, wollten sie Gruselmusel begleiten.

Wie anders sah jetzt im Sonnenschein das Meer aus als in der Nacht, in der er ausgerissen war. Gruselmusel konnte sich kaum satt sehen an den glitzernden, spielenden Wellen, die umeinander und übereinander sprangen wie wilde Pferde, an den weißen Segeln über den Booten, den großen Schiffen, den hellen Wolken, mit denen der Wind spielte, und seinen kreischenden Begleitern, den übermütigen Möwen.

Schließlich tauchte in der Ferne der vertraute Nebelschleier auf. Noch einmal einen Abschiedsgruß schreiend, umkreisten ihn die Möwen, dann flogen sie über das Meer davon, während Gruselmusel sich klopfenden Herzens der heimatlichen Insel näherte.

Als er den Nebelvorhang durchschritt, war ihm gleichzeitig froh und ängstlich zumute. Welche Strafe würde ihn erwarten? Doch nein: Seine Eltern, die Tanten, Onkel und Lehrer hatten sich fast aufgezehrt vor Sorge um den kleinen Ausreißer. Sie empfingen ihn freudig und erleichtert, dass er heil wieder zu ihnen gefunden hatte. An diesem Tag hatten nicht die alten Gespenster das Wort. Nein, sie hockten im Kreise um Gruselmusel herum und lauschten gespannt seinen Erlebnissen auf der Reise.

Jedenfalls wurde während der weiteren Jahrzehnte seiner Schulzeit Gruselmusel ein vorbildlicher Gespensterschüler, der alle Tricks des Geisterlebens erlernte, bis er das gelbe Kleid ablegen und ein graues anziehen durfte. Trefft ihr also in irgendeinem alten Gemäuer oder einem Schloss einen besonders klugen und flinken grauen Geist, der immerfort lacht, so könnte es durchaus unser Gruselmusel sein.

Yvonne Habenicht, 2005

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