Anita auf der Wolke

 

 

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Anita auf der Wolke

 

Anita ließ den Rucksack auf die Wiese fallen und plumpste seufzend ins Gras. Sie streifte die neuen Turnschuhe von den Füßen. Ihre Fersen waren rot gescheuert und taten höllisch weh. Die Sommersonne schien warm auf die Parkwiese. Anita legte sich ins Gras, schirmte die Augen mit der Hand ab und sah in den Himmel hinauf zu den kleinen weißen Wolken, die unendlich langsam durch die windstille Luft zogen. Sie spielte ein altes Spiel, das sie schon oft gespielt hatte: Wenn sie die Wolken lang genug ansah, dann wurden sie Figuren. Jene dort könnte ein Vogelkopf sein, die andere wuchs sich langsam zu einem kleinen Elefanten aus, mit immer länger werdendem Rüssel. Während sie so in die Wolken träumte, vergaß sie fast die verhauene Mathearbeit und das mulmige Gefühl bei dem Gedanken, sie der Mutter vorzulegen. Nach dieser unglücklichen Note wurde es mit ihrer Versetzung echt knapp.

 

Die Wolken zogen sich auseinander, schoben sich zusammen, bildeten immer neue Figuren. Anita wünschte im Moment nichts weiter, als dort oben zu sein bei den Wolken, weit weg von der Schule, von Mathearbeiten, Versetzungen und einem Abend voller Hausaufgaben. Wie sie so da lag und den Wolken Tiere und Gesichter andichtete, schien ihr, sie käme ihnen immer näher und näher. Sie  hatte das Gefühl, zu schweben, sich ganz langsam und sachte von der grünen Wiese zu heben. Sie sah um sich und stellte verwundert fest, dass sie wirklich nicht mehr auf der Wiese lag, sondern sich weit oben in der Luft befand, auf einer weißgrauen kleinen Wolke, die sanft schaukelnd immer höher in den zartblauen Himmel stieg. Der Rucksack und die neuen Turnschuhe waren schon kaum noch drei winzige Pünktchen im Gras.

 

Die Wolke fühlte sich an wie feuchte Watte. Das Mädchen wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, hinunterzufallen. Nur den Kopf wandte sie ganz vorsichtig mal nach links, mal nach rechts. Sogar die Hochhäuser am Rande der Stadt waren bald auf die Größe von Legotürmen geschrumpft. Was, wenn die Wolke sich plötzlich auseinander zog und sie fallen ließ? Wie lange hielt so eine Wolke überhaupt, und wohin flog sie? Anita begann zu zittern.

 

„Hallo!“, rief ein zartes Stimmchen links neben ihr.

 

Anita wandte den Kopf, richtete sich ganz vorsichtig auf. Neben ihrer Wolke flog ein winzig kleines Mädchen in einem silbrig glitzernden Kleid. Nicht nur das Kleid, das ganze Mädchen glitzerte, ihr Haar, das wie Spinnweb um sie wehte, ihr Gesicht, das wie Kristall blitzte. Die Augen erinnerten an blanke, blaue Steine. Das Glitzerkind streckte seine kleine Hand aus und schwang sich neben Anita auf die Wolke.

 

„Hallo, Anita, wie gefällt es dir hier oben? Du wolltest doch gern her?“

 

„Wer bist du?“, fragte Anita, „Und wieso kennst du meinen Namen?“

 

„Ich bin eine Sternschnuppe und warte auf die Nacht. Wir hier oben kennen alle Namen, alle Städte, Dörfer, Wälder, Länder. Einfach alles. Wir sehen es doch jeden Tag. Lass uns ein Stück zusammen fliegen. Nimm meine Hand und fürchte dich nicht.“

 

Anita griff dankbar nach der kleinen Hand, die sich anfühlte wie ein kühles, seidiges Tuch.

 

„Ich fürchte mich aber. Wir sind so weit oben, und die Wolke ist so klein. Ich hab Angst zu fallen.“

 

Das silbrige Mädchen lachte glockenhell.

 

„Nein, du musst dich nicht ängstigen. Deine Wolke hält dich, so lange du willst. Hier bist du ohne Gewicht und kannst auch nicht fallen. Du kannst aufstehen und dich umsehen. Schau, wie schön es ist, und wer alles mit uns fliegt.“

 

Anita fasste sich ein Herz. Viele kleine Wolken segelten um sie herum. Auf fast jeder saßen zwergenhafte Gestalten. Manche glitzerten wie das Mädchen, andere waren kleine graue und schwarze und blaue Männlein mit goldenen, silbernen und bunten Hüten. Sie lachten und scherzten miteinander.

 

„Siehst du, lauter Sternschnuppen und Sternenkinder, und die bunten Männlein sind die Himmelskobolde, die sehr lustig sind und uns über ihre Streiche lachen lassen“, flüsterte Anitas Begleiterin.
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Weit in der Ferne schwebte ein riesiger, grauschwarzblauer Wolkenturm, wie ein brodelndes Ungeheuer. Darauf hockte ein dicker schwarzer Mann. Unter buschigen Brauen blickte er grimmig mit seinen blauschwarzen Wolkenaugen umher.

 

„Wer ist das?“, fragte Anita starr vor Schreck.

 

„Das ist der Donnerkönig“, erklärte die Sternschnuppe, „er macht die Gewitter. Wenn er Gewitter macht, wird es lustig. Dann holt er seinen großen Elektrokasten hervor und lässt die Blitze los, einer wilder als der andere. Dann gibt’s ein Feuerwerk, sag ich dir. Und bei jedem Blitz, den er loslässt, macht er seinen Donnerschrei, dass alles hier oben wackelt.“

 

„Ich weiß nicht, ob ich das so lustig finden werde. Unten hatte ich Angst vor Gewittern.“

 

„Bah, Angst gibt’s hier nicht.“

 

„Mensch, sind wir weit oben!“, schrie Anita, als sie unter sich ein Flugzeug vorbeirasen sah.

 

„Ja, was denkst denn du. Pass auf, gleich kommen die Alpen.“

 

Die Wolke senkte sich ein wenig und Anita sah mit großen Augen auf die schneebedeckten Berggipfel.

 

„Ist das toll!“, rief sie, und die Angst war verflogen. Als die Wolke sich weiter senkte, streckte sie sogar die Hand nach den Gipfeln aus. Die Sache begann ihr Spaß zu machen. Die Wolke stieg wieder und segelte nun in Richtung Westen weiter. Anita griff nach der Hand ihrer Kameradin.

 

„Toll, machen wir eine Weltreise?“

 

„Eine Himmelsreise. Wir sind gleich über dem Atlantik. Siehst du die große Wolkenburg da vor uns?“

 

Anita starrte auf ein hohes, wild brodelndes Gebilde düsterer Wolken, in denen es zischte und grollte und rauschte. Die Wolkenburg schwankte beständig hin und her, und ganz oben ragte ein mächtiger Kopf mit wild blickenden Augen heraus.

 

„Das ist der Herr der Stürme. Pass auf, wenn er gleich seine ungeduldigen Gesellen auf das Meer loslässt. Doch uns hier oben tut er nichts, so grausig er auch aussieht.“

 

Wirklich wurde das Brausen lauter, und Anita sah im Schein des vollen Mondes, wie aus Wolkenmasse unheimliche Gestalten tobten und mit langen, grauen Fingern Luft und Wolken quirlten, dass es nur so toste und brüllte. Die Sturmwolkenfinger griffen in das Meer, das sich aufbäumte und wütend zu schäumen und zu brodeln begann. Die Wolke fegte um die Sturmburg und hüpfte auf und nieder.

 

„Das ist wie im Karussell!“, rief Anita.

 

So schnell ging nun der Flug, dass Anita bald jedes Zeitgefühl verlor. Nur kurz streiften sie jeweils die dunkle Nacht mit ihren funkelnden Sternen, um wieder in den Tag zu fliegen. Gern hätte Anita auch den Nachthimmel und den gutmütigen Mond länger betrachtet, doch wandte die Sternschnuppe ein, dass sie dann fortfliegen müsse. Auf der schnellen Reise über dicken Wolken, Berggipfeln, Land und Meer, oft so hoch oben, dass die Erde nur in bläulichem Dunst schimmerte, hatte Anita bald soviel gesehen, dass ihr der Kopf schwirrte. Sie waren über die kanadischen Wälder geflogen, tief über den Wolkenkratzern New Yorks dahingesaust und über die Gipfel der südamerikanischen Anden. Später hatte die Sternschnuppe Anita die chinesische Mauer gezeigt, sie hatten den Himalaja umkreist und die riesige sibirische Taiga unter sich gehabt. Auch Afrika mit den großen Wüsten und Urwäldern hatten sie gesehen.

 

„Großartig, und das siehst du jeden Tag? Kannst immer dorthin, wohin du magst?“

 

Das Silbermädchen schüttelte den Kopf.

 

„Nicht ganz. So lang ich beim Tag bleibe, kann ich fliegen und mich umsehen, wie ich Lust habe. Doch habe ich die Pflicht, auch wieder in der Nacht zu bleiben. Dann muss ich dicht über die Erde fliegen, so schnell, dass die Menschen mich nur ganz kurz leuchten sehen. Gerade lang genug für einen Wunsch. Das ist gefährlich, denn, wenn sich zu tief fliege, falle ich auf die Erde und werde ein kalter Stein.“

 

„Wie schrecklich. Und du hast trotzdem keine Angst?“

 

Das funkelnde Mädchen ließ sein glockenhelles Lachen erklingen.

 

„I wo, ich pass schon auf. Ich bin klein, leicht und geschickt. Nur dicke, alte Sternschnuppen, die schaffen es manchmal nicht. Hast du schon mal was gewünscht von einer Sternschnuppe?“ Anita schüttelte den Kopf.

 

„Nö, hab erst eine gesehen. Und das ging so schnell, da hab ich das Wünschen vergessen.“

 

„Dann kannst du dir was wünschen, wenn du mich gleich fliegen siehst.“

 

„Du lässt mich allein? Aber wie komme ich wieder zurück? Nein, mach das nicht, ich will nicht ganz allein hier oben sein.“

 

„Bah, sieh dich doch um. Bist du vielleicht alleine? All die Sternschnuppen, Wolken, Sterne, die guten Winde, die kleinen Himmelskobolde, die mit den Wolken spielen, die warme Mutter Sonne, der liebe Mond…“

 

Das konnte Anita nicht trösten. Doch bevor sie noch widersprechen konnte, waren sie in der tiefen Nacht und ihre kleine Kameradin stieß sich lachend von der Wolke ab und zischte davon, wobei sie ein langes Band glitzernder Funken hinter sich herzog und nur noch einem leuchtenden Streifen glich, der in der Ferne verschwand. Vor Schreck hatte Anita versäumt, etwas zu wünschen. Und nun war von dem Silbermädchen nichts mehr zu sehen. Anita schlug die Hände vor das Gesicht und weinte, so hilflos und einsam fühlte sie sich. Warum hatte sie nicht schnell noch gewünscht, nach Hause zu fliegen? Bestimmt würde sie die kleine Freundin nie wieder sehen. Ein paar lachende Sternenkinder zogen vorbei und bewarfen einander mit Wolkenbällen. Sie waren so wild bei ihrem Spiel, dass Anita fürchtete, sie würden sie von der Wolke schubsen. Ein Himmelskobold mit golden leuchtender Spitzmütze begann kichernd ihre Wolke zu schütteln.

 

„Hör auf! Lass das! Du wirfst mich ja runter!“

 

Doch der Kobold lachte, flog unter die Wolke und ließ sie auf und nieder wippen. Anita versuchte ihn an der Mütze zu packen, doch griff sie nur ins Leere.

 

„Ich schieb dich an den Nordpol!“, rief der Kobold.

 

„Nein!“ Vergeblich versuchte Anita, ihn fortzustoßen. Er flog ein Stück davon, sauste dann wieder auf die Wolke zu und schob sie so rasend schnell durch die Nacht, dass Anita Hören und Sehen verging. Die anderen kleinen Himmelsgeister, die da herumtanzten, schienen ebenfalls ihren Spaß am Spiel mit dem Erdkind zu haben und lachten nur. Der Kobold flog davon, doch nun jagte ein ganzes Heer wilder Gestalten auf die Wolke zu. Sie waren grau und durchsichtig, hatten ungeheuer lange Arme, mit denen sie voll Übermut bauschige Wolken schüttelten. Ihr Atem fuhr eisig durch die Luft. Anita spürte, wie ihre Wolke hart und kalt wurde und bei jeder Bewegung zu klirren begann.

 

„Wir sind die Söhne vom Nordwind!“, raunte es durch die frostige Nacht. „Wir sind die Kinder vom Ostwind!“, heulten die anderen.

 

Sie schoben ganze Wolkenberge zusammen und begannen sie gewaltig zu schütteln, bis Millionen kleiner harter Schneekristalle aus ihnen fielen. Mit steifen Fingern klammerte sich das Mädchen seine Wolke, die nun eisglatt und hart war vom kalten  Hauch der tobenden Winde. Sie fiel in tiefe Luftlöcher und drehte sich rasend im Kreis. Doch immer fing sie sich im letzten Moment, segelte einen Augenblick ruhiger, um dann wieder von den Windfingern ergriffen zu werden.

 

Als das fahle Morgenlicht die Nacht verdrängte, sah Anita unter sich die gewaltige, weiße Weite von endlosem Schnee und Eis. Auf grauschwarzem Wasser schoben sich mächtige Eisschollen krachend gegeneinander. Anita bangte jeden Moment, in diese endlose Eislandschaft zu stürzen. Einmal rutschte sie über den Wolkenrand. Gerade konnte sie sich noch an einen faserigen Ausläufer ihrer Wolke klammern. Hilflos hing sie zwischen Himmel und Erde, starr vor Entsetzen und Angst. Doch der kleine Wind erschrak selbst, als er sah, was er angerichtet hatte. Er schob seinen langen Arm unter das Mädchen und blies sie wieder sicher auf ihre Wolke.

 

„Ich wollte dich nicht fallen lassen“, rauschte der kleine Wind, „wir sind es nicht gewohnt, dass hier Menschlein in den Wolken hocken.“

 

„Warum seid ihr dann so wild und ungebärdig?“, fragte Anita, froh, dass der Wind ihre Sprache sprach. Seit die Sternschnuppe verschwunden war, hatte niemand mehr mit ihr gesprochen.

 

„Wir sind eben Winde. Unsere Väter und Großväter sind die großen Stürme. Auch wir wollen einmal groß werden, das Meer aufwühlen, an den Bergen rütteln, mit Bäumen werfen und in der Sturmburg wohnen dürfen.“

 

„Aber mir macht ihr Angst. Wie soll ich je heimkommen, wenn ihr meine Wolke so schüttelt, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich bin.“

 

„Irrtum, Mädchen. Wenn wir nicht blasen, kommst du überhaupt nirgends hin.“

 

Und die Winde trieben wieder lachend ihr Blasespiel. Doch, als die Nacht nahte und die Abermillionen großen und kleinen, funkelnden Sterne ihre Lichter anzündeten, schritt der Mond riesig und dick über den Himmel. Er sah das Mädchen auf seiner zu Eis erstarrten Wolke und gebot den Winden Einhalt.

 

„Komm auf meinen Hof, und sag, was du hier über dem Eismeer tust“, sagte der Mond mit sanfter Stimme. Die kleine Wolke hob sich empor und schwebte zu dem hell erleuchteten Hof, der den Mond umgab.

 

„Der Kobold und die Winde haben mich hergetrieben“, erklärte Anita, „aber ich will doch wieder heim.“

 

„Und warum bist du überhaupt heraufgekommen?“

 

„Keine Ahnung, ich hab’s mir nur so vorgestellt, und dann war ich plötzlich oben. Erst war’s auch schön, da war noch eine Sternschnuppe bei mir. Aber nun reicht’s mir. Ich will hier nicht mehr herumfliegen. Ich will wieder nach Hause.“

 

„Dann bist du wohl nun von deinem Wunsch geheilt, mit den Wolken zu fliegen?“

 

Anita begann zu weinen. „Ich werde mir nie mehr so was wünschen. Nie mehr! Das ist viel schlimmer, als daheim wegen schlechter Arbeiten Schimpfe zu kriegen. Bitte, bitte!“

 

Da winkte der Mond einen guten, sanften Wind herbei und befahl ihm, das Kind auf der Wolke heimzubringen.

 

Der gute Wind schaukelte die Wolke leicht und blies sie vorsichtig vor sich her, bis sie wieder durch den warmen Sonnenschein segelte, nicht mehr hart und eisig war, sondern wieder weich, wie ein Bett. Langsam senkte sie sich tiefer und tiefer, so dass Anita schon Städte und Flüsse, Wälder und Felder, ja sogar die Autos auf den Autobahnen deutlich sehen konnte. Dann spürte sie plötzlich eine tiefe Müdigkeit, die Augen fielen ihr zu, und als sie schließlich erwachte, lag sie neben ihrem Rucksack. Auch die neuen Schuhe standen noch genauso da, wie sie sie abgestreift hatte. Ein Stück weiter spielten ein paar lärmende Kinder mit einem Ball. Ein Hund lief kläffend über die Wiese. Schon glaubte sie, alles geträumt zu haben. Da spürte sie etwas Kaltes in ihrer rechten Hand. Es war ein winziges, glitzerndes Silberplättchen vom Kleid der Sternschnuppe. Doch kaum angesehen, verschwand der kleine Beweis ihrer Reise. In die Wolken sah sie noch oft und dichtete ihnen Gestalten an, doch hoch oben zu sein, das hat sie sich nie mehr gewünscht.

Yvonne Habenicht 

 

                       

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