Der unsichtbare Philipp

Der unsichtbare Philipp

 
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Gebt es ruhig zu, ihr habt es euch alle schon einmal gewünscht: unsichtbar zu sein. Beispielsweise, wenn ihr mit einer schlechten Zensur nach Hause kommt, wenn ihr mit dem Skateboard gegen des Nachbars Auto gedonnert seid, wenn etwas daheim zu Bruch gegangen ist, oder wenn ihr etwas besonders Dummes gemacht habt und euch die halbe Klasse auslacht. Ob es aber wirklich so wünschenswert ist, davon weiß Philipp nun ein Lied zu singen, denn er hat es selbst erlebt. Und das kam so:

Philipps Vater ist Zauberer, und manchmal durfte Philipp mitmachen, wenn der Vater mit seinen Künsten auf der Bühne die Leute zum Staunen brachte. Eines der Kunststücke, bei denen Philipp sogar eine Hauptrolle spielte, hieß „Unsichtbar“. Dabei murmelte Vater einen Zauberspruch, und schwups, war der Junge verschwunden. Mit einer weiteren Formel zauberte er ihn wieder auf die Bühne. Nun war der Vater nicht so ein gewöhnlicher Bühnenzauberer, der sich aller möglichen Tricks bediente, sondern er konnte wirklich und wahrhaftig zaubern.

Das Unglück geschah, als er „Unsichtbar“ in einem völlig neuen Saal vorführte. Kaum hatte er seinen Sohn unsichtbar gezaubert, da löste sich eine Lampe über der Bühne und fiel dem Zauberer direkt auf den Kopf. Einige Minuten war er bewusstlos, anschließend musste eine Wunde auf seinem Kopf genäht werden, aber das Schlimmste war, dass er den Spruch zum Sichtbarmachen seines Sohnes durch den Unfall einfach vergessen hatte. Philipp war also da, aber niemand konnte ihn sehen. Alle Versuche des verzweifelten Vaters, den Spruch wieder aus seinem Gedächtnis zu  holen, schlugen fehl. Die Ärzte waren machtlos, und auch eine Hypnose blieb ohne Erfolg.

Anfangs dachte Philipp, es sei nur eine Frage der Zeit, und fand auch das Unsichtbarsein ganz lustig, doch dann, als es dauerte und dauerte, wurde er sehr unglücklich über seinen Zustand. Er konnte nicht mehr mit seinen Freunden spielen, weil sie ihn nicht sahen. Auf der Straße musste er sehr aufpassen, dass ihn nicht alle anrempelten, und wenn er gar in einem vollen Bus stand, dann fürchtete er oft, platt gedrückt zu werden. Ständig traten ihm andere auf die Füße, stießen ihn an oder schubsten ihn einfach zur Seite. Sogar der Mutter passierte es, dass sie ihm die heiße Suppenschüssel auf die Hände stellte oder begann, das Bett auszuschütteln, in dem er noch lag. Es war also bei Weitem weder lustig noch unterhaltsam, wenn niemand einen sah. Je länger Philipp nicht zu sehen war, desto schlimmer fand er es. Seinem schlimmsten Feind hätte er das nicht gewünscht.

Einzig sein schwarzweißer Kater Murr konnte ihn sehen. Bekanntlich fühlen und sehen Katzen ja so manches, was dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Murr gewöhnte sich an, dem Jungen auf Schritt und Tritt zu folgen und sich vor ihn zu stellen, wenn ihnen jemand entgegenkam. Und Murr war es auch, der die Idee mit den Hexen hatte. Wenn jemand aus des Vaters ramponierten Gehirnwindungen das gewünschte Zauberwort hervorholen konnte oder es gar kannte, so waren das nach Meinung von Murr Hexen. Man weiß ja, dass Hexen gern Katzen haben. Sie pflegen ein inniges Verhältnis zu diesen, weil beide, die Hexen und die Katzen, über übersinnliche Fähigkeiten verfügen. Bis dahin hatte Murr nie das Bedürfnis gehabt, zu den Katzen der Hexen irgendwelche Verbindungen herzustellen. Warum auch? Es ging ihm gut hier im Haus. Weshalb sollte er sich bei Hexen und deren schnurrenden Helfern herumtreiben? Doch, als Philipp wieder einmal heftig schluchzend auf seinem Bett hockte und dem geliebten Kater sein Leid klagte und auch durch noch so zärtliches Schnurren und Schmiegen und Schmusen nicht zu beruhigen war, fasste der Kater den Entschluss, Kontakt zu Hexenkatzen zu suchen. Zu erst war Philipps Reaktion auf diesen Plan sehr ängstlich, denn, was konnte dem Tier alles passieren, und was sollte er ohne seinen treuen Freund machen?

Schließlich vertraute er jedoch auf Murrs Plan. Er sah ja ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als jede Chance wahrzunehmen, vielleicht wieder sichtbar zu werden. So machte sich Murr eines Nachts auf den Weg und befragte alle Katzen, die herumstreunten, bis er schließlich eine alte, struppige, rotweiße Katze fand, die wirklich eine Hexe kannte und sogar mit dieser schon Besenreisen unternommen hatte. Zum Reisen hatte sie nicht mehr viel Lust, doch besuchte sie noch regelmäßig ihre Hexe. Dieser Katze erzählte nun Murr von dem Unglück, das seinen kleinen Herren getroffen hatte. Die Katze wiegte den Kopf, maunzte nachdenklich, und meinte, sie selbst wisse auch keinen Rat, doch könne sie die Hexe befragen. Es sei aber sinnvoll, wenn er und der unsichtbare Junge mitkämen, damit die Hexe nicht glaube, sie, die alte Katze, habe sich mal wieder etwas ausgedacht. Immerhin haben Katzen eine rege Fantasie.

Heimgekehrt, rieb Murr laut schnurrend seinen Kopf an den unsichtbaren Waden von Philipp, sprang auf seinen Schoß und berichtete ihm begeistert von dem nächtlichen Erlebnis. Nicht nur die Hoffnung auf Sichtbarkeit, sondern auch die Aussicht, einer leibhaftigen Hexe zu begegnen, ließen Philipp mit fiebriger Erwartung der nächsten Nacht entgegensehen. Als er des Abends wie gewohnt ins Bett ging, war von Müdigkeit natürlich keine Spur. Vielmehr blickte er dauernd auf den großen Wecker auf seinem Nachttisch, dessen Zeiger sich heute langsamer als sonst zu bewegen schienen. Murr dagegen saß, über jede Aufregung erhaben, mit stoischer Ruhe auf dem Fensterbrett und wartete auf das verabredete  Erscheinen der alten Katze.

Schließlich, kurz vor Mitternacht, landete sie mit lautlosem Sprung vor dem Fenster. Da das Zimmer im Erdgeschoss lag, war es ein Leichtes für Murr und Philipp, unbemerkt aus dem Haus zu kommen. Sie folgten der Katze aus der Stadt heraus, durch den Wald bis zu einer kleinen Lichtung, wo sich die Katze niederließ und einen lauten Katzenjammer anstimmte. Kurz darauf hörten sie ein Zischen in der Luft, und mit wehenden Haaren sauste die Hexe auf ihrem Besen heran und landete direkt vor ihnen. Philipp hatte sich bis dahin Hexen vorgestellt, wie sie in Büchern gezeichnet und in Filmen dargestellt sind. Alt, mit dicken Warzen auf den Nasen und krächzender Stimme. Doch Hexe Sinisusa sah überhaupt nicht Furcht erregend aus. Sie war sehr klein, hatte freundliche, schwarze Augen, die langen, krausen Haare waren mit einem bunten Schal zusammengebunden, und sie trug einen warmen, leuchtend roten Overall gegen die kalte Herbstluft. Immer wieder schüttelte sie entsetzt den Kopf, als sie die Geschichte von dem vergessenen Zauberspruch hörte. Nein, so was war ihr noch nicht untergekommen. Wie konnte ein Zauberer so leichtsinnig sein, seinen Spruch nicht wenigstens irgendwo in einem Geheimfach schriftlich zu hinterlegen?

„Allein kann ich euch auch nicht helfen“, sagte Sinisusa schließlich. „Wisst ihr, es ist so, dass wir Hexen zwar in der Lage sind, bei so etwas zu helfen, denn wir haben Zugang zu allen Zaubersprüchen, doch eine allein kann es nicht. Es ist so, dass jede Hexe über bestimmte Zauberbuchstaben verfügt. Mit genügend anderen Schwestern kann ich den Spruch zusammensetzen. Aber wir sind ständig unterwegs. Eigentlich kommen wir nur zum jährlichen Hexentanz alle zusammen. Und das dauert noch einige Monate. Lasst mich nachdenken.“

Die alte Katze sprang auf ihre Schulter, um ihr beim Denken zu helfen, und Murr und Philipp setzten sich geduldig wartend auf einen Baumstamm. Schließlich rieb die Hexe mit ihrem Zeigefinger die Nasenspitze.

„Ich glaube, ich habe eine Idee. Wir müssen die Oberhexe überzeugen, dass ein besonderer Notfall vorliegt und sie die anderen zusammenrufen muss. Wir müssen ihr eben klar machen, dass die ganze Zauberkunst in Verruf gerät, wenn der Sohn eines Zauberers durch diesen dummen Unfall immer unsichtbar bleibt. Nichts fürchtet sie mehr als schlechten Ruf.“

„Und wo ist diese Oberhexe?“, fragte Philipp.

„Das ist so ein Problem“, sagte Sinisusa, „sie wohnt weitab in einer Berghöhle. Ich kann mit Burga, meiner Katze auf meinem Besen reisen, das heißt, wenn Burga Lust dazu hat. Aber ihr könnt da nicht mit hinauf, doch dabei sein müsst ihr schon.“

Philipp ließ enttäuscht den Kopf hängen. Er besah den Besen und stellte fest, dass dieser wirklich zu klein war für alle.

„In drei Tagen ist Vollmond“, sprach die Hexe weiter, „dann könntet ihr auf einem Silberstrahl des Mondlichts den Weg antreten. Vorausgesetzt, der Himmel ist klar genug. Doch so sieht es aus.“

Philipp blieb vor Schreck der Mund offen stehen. „Wie soll das denn gehen? Auf einem Lichtstrahl? Wie soll man darauf gehen können?“

„Und ob man das kann“, maunzte jetzt Burga. „Was meint ihr, wie oft ich schon auf einem Streifen Mondlicht durch die Nacht spaziert bin. Sinisusa hext mich ganz leicht und dann geht es wie geschmiert.“

Philipp war noch immer misstrauisch. Ein Blick auf Murr, der bedächtig nickte, sagte ihm aber, dass der Kater dies durchaus für möglich hielt.

„So ist es“, fuhr Sinisusa fort, „ich nehme euch einfach das Gewicht. Dann könnt ihr mit Leichtigkeit auf dem Strahl wandern. Ich werde neben euch her fliegen, damit ihr den Weg findet.“ „Aber wird denn der Lichtstrahl genau bis zu der Höhle reichen? Und wenn es nun plötzlich wolkig wird und wir ihn nicht mehr sehen können?“, zweifelte Philipp.

„Ich muss natürlich den richtigen Lichtweg finden. Es ist wie mit euren Straßen. Das Risiko mit den Wolken müssen wir eingehen. Doch sag“, wandte sie sich an den Jungen, „ist es dir nicht die Sache wert, etwas Mut zu zeigen?“

Natürlich wollte er sich nicht nachsagen lassen, weniger mutig zu sein als eine alte Katze und sein eigener Kater. So verabredeten sie sich für die besagte Nacht an der gleichen Stelle.

Als Sinisusa ihnen ihr Eigengewicht genommen hatte, fühlte sich Philipp leicht wie eine Daunenfeder. Er musste sich an einem Baum festhalten, um nicht von dem kaum merklichen Windhauch in die Luft gehoben zu werden. Sinisusa und Burga bestiegen ihren Besen. Die Hexe ergriff die Hand des Jungen, und half ihm auf den Lichtstrahl zu klettern. Kater Murr, wie immer auf seine Bequemlichkeit bedacht, sprang kurzerhand auf Philipps Rücken. Wirklich konnte Philipp auf dem silbrigen Lichtstrahl entlanggehen. Jetzt schien das gebündelte Mondlicht auch nicht mehr so unsicher und schmal zu sein. Nur hinunterblicken durfte er nicht, dann begann sich alles vor seinen Augen zu drehen. Und als die Hexe seine Hand losließ, breitete er ängstlich die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Hoch über dunklen Wäldern wanderten sie dahin. Immer höher führte der Weg. Schon wurde der Wald durchsichtiger, und im Mondlicht schimmerte das Felsgestein zwischen den wenigen Bäumen und Sträuchern. Wind war aufgekommen. Philipp begann zu zittern. Nicht nur, weil die Nacht so kalt war, sondern auch, weil er Angst hatte, von dem Strahl geblasen zu werden. Murr krallte sich ängstlich in seinen Rücken. Seine Krallen stachen wie kleine Nadeln, doch Philipp wagte nicht, sich zu beschweren. Wo sollte auch Murr jetzt hin? Sprang er, würde er zweifelsohne in die Tiefe stürzen.
Gerade als der Wind stärker wurde und Philipp glaubte, nicht mehr standhalten zu können, setzte Sinisusa zur Landung an und wies auf eine Felswand vor ihnen, wo der Mondlichtstrahl geradewegs auf ein dunkles Loch im Gestein wies.
Die alte Oberhexe hockte murmelnd im matten Schein einer kleinen Laterne über einem unglaublich dicken, vergilbten Buch.
„Wer stört mich denn jetzt?“ brummte sie und schob die runde Brille höher.
Sinisusa trat vor, bat für die Störung um Verzeihung und erzählte die Geschichte. Die alte Hexe hieb mit der Faust auf ihr Buch: „Was ist das für ein blöder Zauberer? Man muss sich schämen. Stümper, Anfänger…! Nie so was Dummes gehört!“, polterte sie.
Philipp zog beschämt den Kopf ein, als sie so über seinen Vater herzog.
„Versteckt seine Formeln nicht! Lässt sich ´ne Lampe auf den Kopf fallen und kann den armen Sohn nicht zurückholen! Bringt unsere ganzen Hexentermine mit seiner Schusselei durcheinander! Herrje, jetzt kann ich hier mühsam die Formel suchen. Und dann muss ich noch all die Hexen zusammentrommeln, die die Buchstaben tragen. Arg! Arg!“
Nun wäre Philipp ganz gern unsichtbar gewesen, aus Scham für seinen Vater, doch für die Hexen war er natürlich sichtbar. Sie waren ja selbst unsichtbare Wesen, und solche können einander selbstverständlich erkennen. Die ganze Nacht blätterte die alte Hexe brummelnd in ihrem Buch, kritzelte Buchstaben und Wörter. Dann hob sie prustend den Kopf und wedelte mit der Liste, die sie aufgestellt hatte.
„Na, ein feines Stück Arbeit wird das, die alle hierher zu rufen. Sei es drum.“
Auf ihren dicken, ausgetretenen Filzschuhen schlappte sie zu einem riesigen Apparat, der hinten im Dunkel der Höhle stand.
„Das ist ihr Funkgerät“, erklärte Burga kichernd. Als junge, moderne Hexe war sie schon lange der Meinung, die Alte sollte sich endlich einen vernünftigen Computer hexen.
Unbeirrt begann die Oberhexe die Namen einzutippen. Und wirklich, schon kurze Zeit später schwirrte und zischte es nur so durch die Luft am Berg. Eine nach der anderen kamen sie angeflogen. Philipp und Murr bekamen ihre Münder nicht mehr zu vor Staunen. Zwanzig Hexen waren bald in der Höhle versammelt. Junge und alte, dicke und dünne Hexen, solche mit alten ausgefransten Besen und ganz Neumodische mit Motorbesen. Und alle tuschelten aufgeregt durcheinander, starrten und zeigten auf den Jungen und seinen Kater.

So nah waren sie alle schon der Lösung, doch stellte sich heraus, dass eine fehlte. Die Hexe, die den Buchstaben X trug, war nicht da. Immer wieder funkte die Oberhexe nach ihr, doch kam keine Antwort. Jede einzelne Hexe befragte sie nach dem Aufenthalt von Trulla. Am Ende meinte eine der ganz jungen Hexen sich zu erinnern, Trulla sei nach Schottland in ein Schloss geflogen, um einem ganz frischen Gespenst das Spuken beizubringen.

„Bah, und wieso weiß ich das nicht?“, schimpfte die Oberhexe.
Ja, nun war guter Rat teuer. In Schottland gab es schließlich viele Schlösser. Wohl oder übel, es galt die ganze Mannschaft einschließlich Kater und Kind auf die Flugreise zu schicken, um die fehlende Hexe zu suchen, damit sie endlich den Kreis schließen und die Zauberformel bilden konnten. Philipp und Murr sollten auf einem besonders stabilen Motorbesen mitfliegen. Gewichtslos konnte man sie nicht wieder machen, weil es über dem Meer zu stürmisch werden konnte. Sie wurden sogar an der Lenkhexe festgebunden, damit sie nicht noch unterwegs verloren gingen.
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Auf ging nun die wilde Jagd. Mit lautem Rauschen und Zischen erhoben sich die Besen in die Luft. Philipp und Murr blieb bei dem heftigen Start fast das Herz vor Schreck stehen.

„Ist mir schlecht!“, rief der Kater.

„Meinst du, mir nicht?“, antwortete Philipp. „Kotz mir bloß nicht ins Genick.“

„Hab ja den ganzen Tag nichts gefressen.“
Es wurde wirklich sehr stürmisch. Tief unten sahen sie die schäumenden Wellenkämme. Der kalte Wind nahm ihnen fast den Atem. An Sprechen war nicht mehr zu denken. Ohnehin war Philipps Gesicht so kalt, dass er den Mund gar nicht bewegen konnte. Kaum merkte er noch seine Glieder. Er war ja in der dünnen Bühnenkleidung unsichtbar geworden und denkbar schlecht für diesen Flug ausgestattet. Murr schimpfte und jammerte zum Gotterbarmen hinter ihm.
Alle waren froh, als sie endlich die schottische Küste erreicht hatten. Das Schloss, an dem sie endlich Halt machten, sah alles andere als einladend aus. Es lag mitten in einer einsamen Hochebene mit ausgedehnten Mooren. Die Mauern waren schon ziemlich verfallen, der Garten arg verwildert und die blinden Fensterscheiben konnten kaum noch das Mondlicht widerspiegeln. Doch nach dem wilden Flug durch die kalte Nacht wäre jedes Obdach willkommen gewesen. Die Tür öffnete eine weiß gekleidete Geisterfrau, die hundertjährige Elisabeth. Philipp und Murr kauerten sich sogleich vor den alten Kamin, in dem noch der Rest eines Feuers glimmte. Murr rollte sich neben Burga zusammen und schlief sofort ein. Sein kleiner Herr aber war viel zu aufgeregt, um auch nur ein Fünkchen Müdigkeit zuzulassen. Er versuchte von dem flüsternden Stimmengewirr etwas zu erlauschen, doch die Hexen und die Geisterfrau redeten so schnell und so leise miteinander, dass kaum etwas zu verstehen war. Als das Gespräch abebbte, kam Sinisusa zu dem Jungen.

„Die hundertjährige Elisabeth meint, es käme nur ein Schloss in Frage. Dem alten Geist hat es dort nicht mehr gefallen, und ein ganz junger hat sich nun eingenistet. Doch der hat von Tuten und Blasen noch keine Ahnung. Nur dort kann es sein, wo die Hilfe der fehlenden Hexe angebracht ist. Es ist ein sehr kleines Schloss und liegt sehr versteckt. Darum soll Pumpadil fliegen, die sich in Schottland gut auskennt. Wir anderen warten hier. Hier ist genug Platz, und im großen Garten können wir später den Kreis zu bilden.“

Philipp konnte seine Ungeduld kaum zügeln. So nah an dem erlösenden Zauberkreis schien ihm jede noch so geringe Wartezeit endlos. Aber was blieb ihm übrig. Es galt abzuwarten, bis Pumpadil genaue Anweisungen für den Flug erhalten hatte, und dann musste sie auf die kommende Nacht warten, um zu reisen. Es war auch noch nicht ganz sicher, ob es sich nun wirklich um das gesuchte Schloss handelte. Die hundertjährige Elisabeth kannte die Geschichte nur vom Hörensagen, weil sie in all den hundert Jahren ihr Schloss nicht verlassen hatte.

Am Morgen versteckten sich alle im Keller zwischen Gerümpel und Spinnennetzen. Der alten, hochadeligen  Lady Mary fiel, als sie des Morgens aufstand, ein fremdartiger Geruch im Haus auf.

„Damned!“, murmelte sie, „hat das alte Geisterweib wieder die Tür aufgesperrt und Katzen hereingelassen.“

Sie und die hundertjährige Spukgestalt hatten sich schon lange aneinander gewöhnt. Um nichts in der Welt hätte Lady Mary die alte Elisabeth vertrieben, auch wenn sie wegen des Geistes kaum Dienstboten bekam, die lange im Haus bleiben oder gar dort übernachten wollten. Lady Mary war vielmehr der Meinung, dass die Anwesenheit des alten Geistes ihr Sicherheit vor Einbrechern und anderen unangenehmen Eindringlingen verschaffte. Die Spukgewohnheiten von Elisabeth waren ihr vertraut und konnten sie nicht mehr erschrecken. Und die Geisterfrau wusste es zu schätzen, dass Lady Mary ihr nicht ins Handwerk pfuschte und sie spuken und sich umtreiben konnte, wie es ihr gefiel.

Nun aber war Lady Mary doch ein wenig unruhig, denn ihre Nase, die so gut riechen konnte wie sie lang war, nahm noch immer einen seltsamen Geruch war, der nicht nur von Katzen stammte und auch nicht von anderen Tieren oder Menschen.

„Dieser Geruch, es sind doch Fremde hier. Fremde Geister oder so was…“

Mit einer Taschenlampe bewaffnet, den rosa Morgenrock gerafft, um nicht zu stolpern, folgte sie dem leicht modrigen Mief in Richtung Keller. Hier sah sie zwar nur zwei Katzen, die ihr zublinzelten, der Geruch war aber so intensiv, dass sie nun endgültig überzeugt war, fremde Geister im Haus zu haben. Es war unendliche Jahre her, dass Elisabeth fremde Geister eingeladen hatte. Sie nahm darauf Rücksicht, dass die Lady dies nicht schätzte.

„Das geht zu weit, Elisabeth, dass du mir fremde Spukgestalten einschleppst. Pfui, wie sie stinken, und von weit her kommen sie auch, denn es riecht zudem nach Salzwasser und fremden Wäldern“, schimpfte sie.

Doch sie erbarmte sich immerhin der Katzen und scheuchte sie zur Treppe: „Auf, in die Küche, George hat bestimmt noch was für euch.“

Die Katzen ließen sich kein zweites Mal auffordern, und Philipp sah leicht enttäuscht, wie ihn Murr wegen eines Frühstücks einfach mit den Hexen allein ließ. Da er aber, im Gegensatz zu diesen, die viele Monate ohne Essen auskommen konnten, ganz normalen irdischen Hunger verspürte, schloss er sich einfach der Prozession von Katzen und Lady an.

George war der alte Butler der Lady, als echter Butler treu ergeben und auch durch eine Geisterfrau nicht vom Schloss zu vertreiben. Da alle anderen Dienstboten nur kamen, um schleunigst ihre Arbeit zu verrichten und wieder zu gehen, bereitete er auch morgens das Frühstück. Über die Katzen war er wenig begeistert, denn er hatte die Erfahrung gemacht, wenn man eine fütterte, so kamen bald noch viele dazu. Trotzdem stellte er ihnen ein paar Essensreste und Milch hin. Währenddessen stibitzte Philipp geschwind zwei Sandwichs und stopfte sie in den Mund.

„Bin ich senil, oder fehlen hier zwei Brote?“, murmelte der Butler. Kaum hatte er sich wieder umgedreht, waren die nächsten Brote verschwunden und auch der Milchkrug leer.

Als er der Lady sein Erlebnis klagte, schlug diese empört mit der kleinen knochigen Faust auf den Tisch. Für vieles hatte sie Verständnis, doch nicht dafür, dass man ihr ihr Frühstück wegaß.

„Elisabeth, du alter, blöder Geist, jetzt reicht es! Nicht nur, dass du Fremde einschleppst, auch noch solche, die uns das Essen klauen. Wenn das so weitergeht, lass ich das verdammte Schloss abreißen. Dann kannst du sehen, wo du bleibst.“

Die Geisterfrau hockte missmutig unter den Ahnengemälden. Sie war ja selbst nicht glücklich über die ganze Angelegenheit. Wer konnte auch ahnen, dass ein ganzes Hexengeschwader hier einfiel? Auch hatte sie nicht damit gerechnet, dass der unsichtbare Junge Hunger hatte wie ein Wolf. Dabei hatte sie all die Jahrzehnte so schön und friedlich hier gespukt. Selten hatte die Lady so mit ihr geschimpft.

Als sich die Dunkelheit über das Moor hinter dem Schloss und den wilden Garten senkte und Elisabeth eigentlich ihre abendliche Klapper- und Rasselrunde gemacht hätte, ging sie erst mal zu den Hexen und las ihnen die Leviten. Leider mussten sie alle aber diese Nacht vergeblich auf Trulla und die Hexe Pumpadil warten.

Diese waren durch einen heftigen Sturm weit vom Weg abgetrieben. Lange waren sie an der Küste entlang geflogen, hatten schließlich in einer verfallenen Hütte den Tag verschlafen. Nun irrten sie über weite Wälder und ausgedehnte Hochmoore. Sie hatten gänzlich die Orientierung verloren. Wegen des schlechten Wetters funktionierten auch ihre Funkgeräte nicht. Sie konnten nicht mal zu der Oberhexe, die eine riesige Weltkarte besaß, Kontakt aufnehmen.

Im Schloss ging es derweil hoch her. Philipp schwankte zwischen Verzweiflung und Spaß an dem Abenteuer. Die beiden Katzen vertrieben sich die Zeit, indem sie einander fauchend und kreischend durch das Schloss jagten. Die Hexen und Elisabeth gerieten in einen heftigen Streit, weil Elisabeth nicht willens war, sie länger zu beherbergen und es sich mit ihrer Schlossherrin zu verderben. Die Hexen dagegen pochten auf die Geisterpflicht, einander beizustehen. Als neuerlich ein grauer Morgen dämmerte, waren alle ziemlich unzufrieden, verzweifelt und grübelten über ihr weiteres Vorgehen nach.

Alle waren sich nun einig, dass etwas passiert sein müsse, und beratschlagten schon, ob man nicht noch eine weitere von ihnen auf die Suche schicken solle.

Philipp ließ traurig den Kopf hängen. Statt dass nun endlich der Kreis geschlossen und die Zauberformel vollständig war, würde somit noch eine Hexe und somit ein weiterer rettender Buchstabe verschwinden, womöglich auch auf Nimmerwiedersehen. Seine Chancen, hier wieder sichtbar zu werden, schienen zunehmend zu schwinden. In seiner tiefen Traurigkeit schlich er in die Küche und stopfte in sich hinein, was nur ging. Natürlich gab es daraufhin am Morgen wiederum ein mächtiges Geschimpfe, dass sich vor allem gegen die arme Elisabeth richtete. Die wiederum begann gegen alle guten Geistersitten am helllichten Tage wütend herumzuspuken, ließ die Fenster klappern und Geschirr zerschellen, blies in das Kaminfeuer, dass die Funken sprühten und zog sich somit noch mehr den Zorn der Lady zu. Im Keller stritten nun auch die Hexen miteinander. Sie sorgten sich um ihre verschollenen Schwestern. Manche gaben Sinisusa die Schuld, weil sie diesen Jungen angeschleppt hatte, andere wiesen darauf hin, dass es einzig die blöde Katze Burga gewesen war, die alles ins Rollen gebracht hatte. Vor allem aber richtete sich ihr Zorn gegen diesen bekloppten Zauberer, der seinen Sohn unsichtbar machte und nicht fähig war, ihn wieder normal zu zaubern. Philipp machte sich ganz klein in seinem Winkel, das personifizierte schlechte Gewissen, obwohl er doch für all das nichts konnte. Erst als er bitterlich zu weinen begann, besannen sich die Hexen, dass es schließlich ihre Aufgabe war, diesem armen Kind zu helfen, statt es noch trauriger zu machen. Sie würden sich eben bei Nacht alle auf die Suche machen.

„Aber ihr könnt mich doch nicht hier allein lassen!“, jammerte Philipp, „dann will ich auch mitkommen und suchen.“

Nun ging der Streit von neuem los, ob man Philipp und die Katzen mit auf die Suche nehmen sollte oder nicht. Je weiter der Tag sich zum Abend und dieser zur Nacht neigte, desto weniger waren alle einig, was nun zu tun sei. Schließlich wusste auch niemand, wo die Suche zu beginnen sei.

Die hundertjährige Elisabeth hatte schließlich eine Idee. Sie schlug vor, zum Moor zu gehen und die Irrlichter anzufachen, bis sie das Moor hell erleuchteten. Dies könnte eventuell den verirrten zwei Hexen den Weg weisen.

So beleuchtete der Mond bald eine eigenartige Prozession, die sich durch den Schlossgarten bewegte. Voran schritt die hundertjährige Elisabeth, die in ihrem wehenden, weißen Gewand fast noch heller leuchtete als der Mond. Ihr folgten 20 Hexen in verwegenster Aufmachung. Manche trugen lange bunt geflickte Gewänder und flatternde Bänder in den langen Haaren, andere sahen aus, als bestünden sie gänzlich aus Lumpen, die jüngeren, die gern mit der Mode gingen, trugen grellbunte Overalls und riesige Hüte oder zottige Fellmützen, unter denen sich ihre wilden, buschigen Haare krausten. Am Ende folgte ihnen ein kleiner Junge mit dem glänzenden Satinanzug der Zaubervorstellung, hinter dem ein schwarzweißer Kater mit aufgerichtetem Schwanz und eine struppige alte Katze trotteten.

Über dem Moor waberte Nebel. Kaum einen Schritt weit konnte man sehen. Es gluckste und blubberte. Die Hexen tasteten sich vorsichtig mit ihren Besen voran. Nur Elisabeth, seit über hundert Jahren mit dieser Landschaft vertraut – man musste ja ihre Lebenszeit hinzu rechnen – schritt selbstsicher schwebend einher. Philipp schlotterte vor Angst, und den Katzen stellten sich alle Haare ihres Fells auf.

Elisabeth blies in die Irrlichter, dass sie aufloderten. Die Hexen fegten mit ihren Besen den Nebel beiseite, der hartnäckig war und sich wieder über die Irrlichter legen wollte. Dazu stimmten die Katzen ein markerschütterndes Geheul und Gejammer an, so dass sogar der Mond sich eine Wolke über die Ohren zog.

Pumpadil und Trulla waren, kaum das die Nacht hereinbrach, zu einem hohen Berg gestartet. Der Sturm hatte sich gelegt, und diese Nacht schien sternenklar zu werden, so konnten sie hoffen, von dem Berg aus entweder das Schloss zu sehen oder einen anderen Anhaltspunkt, der ihnen die Orientierung erleichtern könnte. Gelang das nicht, so sollte nun das Wetter zumindest erlauben, die Oberhexe anzufunken. Unter ihnen breitete sich weit und dunkel das Land aus. Nur vereinzelt waren Lichter von Gutshöfen in der Tiefe zu sehen. Das Schloss konnten sie jedoch nicht ausmachen, denn dort brannte auch kein einziges Licht mehr. Doch was war das? In der Ferne schien sich etwas wie ein Feuerwerk zu entzünden. Gebannt starrten sie auf die seltsame Lichterscheinung. Blaue und grüne Flämmchen flackerten auf und nieder, tanzten in die Höhe, kreisten in der Luft, vereinten sich zu hellem Licht. Und mitten in diesem Lichterspiel schimmerte eine große, weiße Gestalt. Bevor sie sich noch einig waren, was es mit dieser Erscheinung auf sich hatte, erscholl ein so grässlicher Katzenjammer, dass sofort alle Zweifel beseitigt waren. Dort musste es sein! Diese Stimmen konnten nur Burga und Murr gehören. Besonders Burga war immerhin für ihre scheußlichen Gesänge bekannt. Dann war das bläuliche Feuerwerk auf hell entzündete Irrlichter im Moor bei dem Schloss zurückzuführen. Dort musste es sein.

Mit einem Jubelschrei trieben sie ihre Besen in die Richtung der Signale. Sie sausten wie die Teufel durch die Nacht, immer auf die Lichter zu, holten aus den Besen die letzten Reserven. Schade, dass sie keine Stoppuhr dabei hatten. Bestimmt flogen sie einen Weltrekord.

Schon hörten die am Moor Versammelten das sanfte Zischen der sausenden Besen in der Ferne. Sie warfen die Arme in die Luft, winkten und jubelten. Selbst die hundertjährige Geisterfrau, die selten ihre Fassung verlor, kreischte laut und wedelte mit ihrem weißen Schleier. Philipp ballte seine kleinen Fäuste und zitterte vor Aufregung. Da kamen sie, das war die Rettung.

Als die zwei vermissten Hexen völlig außer Atem landeten, fielen alle sich erst mal erleichtert in die Arme. Dann traten sie den Weg in den Garten an, um den Kreis zu bilden. Atemlose Stille herrschte, während die Hexen sich im Kreise in jener Reihenfolge, die die Zauberformel ergab, um den Jungen aufstellten. Als eine jede ihren Platz eingenommen hatte, fassten sie einander stumm an den Händen und schritten im Kreise drei Mal um den Jungen.

Philipp fühlte ein eigenartiges Ziehen und Kribbeln in allen Gliedern. Es war ihm wohlbekannt, denn dies hatte er immer verspürt, wenn der Vater ihn wieder sichtbar zauberte. Doch jetzt und hier war es bei weitem aufregender. Dann war der stille Tanz vorüber.

„Noch ist es Nacht“, sagt Sunisusa, „doch wenn der Morgen graut, wirst du uns nicht mehr sehen können, und auch nicht die hundertjährige Elisabeth. Aber wir werden in deiner Nähe sein, bis du sicher daheim bist. Du und Murr. Burga fliegt wieder mit uns. Lass uns deshalb Abschied nehmen.“

Philipp schluckte. Nun war er endlich wieder ein richtiger, sichtbarer Junge, aber fast schnürte ihm der Abschiedsschmerz die Kehle zu. Waren sie nicht seine treuesten Verbündeten gewesen, die vieles auf sich genommen hatten, um ihn zu retten? Und nun sollte er sie nie wieder sehen können?

„Ich werde euch sooo vermissen“, sagte er leise, „aber sagt, wie soll ich nun nach Hause kommen, wenn ich nicht mit euch fliegen kann?“

Da trat die alte weiße Frau zu ihm, ergriff seine Hand und sagte: „Mach dir keine Sorgen, ich werde jetzt meiner Lady erscheinen und sie einweihen. Sie wird Sorge tragen, dass du heim kommst.“

Und so geschah es, dass Elisabeth in dieser Nacht um das Bett der Lady wehte, sie sanft weckte,  ihr die unglaubliche Geschichte erzählte und sie bat, dafür zu sorgen, dass das arme Menschenkind zu seinen Eltern komme. Erst glaubte die Lady, sie habe geträumt. Doch, als sie dann morgens den fremden Jungen sah, wusste sie, dass ihr Schlossgeist wirklich mit ihr gesprochen hatte. Noch am gleichen Tag wurde Philipp in ein Flugzeug gesetzt, dass ihn zurück nach Hause brachte.

Wie glücklich waren die Eltern, als sie ihren Sohn wieder in den Armen hielten und ihn auch sehen konnten.

Aber wie erschrocken schauten sie drein, als Philipp ihnen die ganze Geschichte erzählte. Was hatte der Junge alles durchgemacht. Unter Tränen versicherte ihm der Vater hoch und heilig, das Zaubern nun ganz und gar aufzugeben.

Doch so aufregend das Abenteuer auch gewesen war, egal was Philipp zukünftig widerfahren wird, unsichtbar zu sein, das wird er sich niemals wieder wünschen.

Yvonne Habenicht

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